Manchmal glaubt man nicht, dass es tatsächlich Zufall ist. Gerade erst ließ Bildungsminister Martin Polaschek wissen: Die alte Schulschrift hat ausgedient. Gemeint war damit aber nicht, dass es eine neue geben soll. Sondern, dass ab dem nächsten Schuljahr Lehrende nicht mehr zwischen den beiden bereits existierenden österreichischen Schulschriften wählen dürfen. Doch die neue, die künftig alleine gelehrt werden soll, ist auch nicht gerade jung – wurde sie doch 1995, also vor bald drei Jahrzehnten, in die Schulen getragen.

Schreiben lernen Kinder ab dem kommenden Jahr nicht mehr mit der Schulschrift 1969.
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Und diese, so findet man in Wien, entspreche nicht den "neuesten lern- und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen zu Kognition, chirografischer Ergonomie und Lesephysiologie". Weshalb zwei Wiener Typografen im Auftrag des Wiener Bildungsservers, eines von der Stadt Wien unterstützten Vereins zur Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen, seit rund zwei Jahren an einer neuen Schulschrift feilen. Am Donnerstag, drei Wochen nach dem Aus für die Schulschrift von 1969, soll "Prima" präsentiert werden. Zufall.

In Wien soll künftig eine neue Schrift gelernt werden.

Aber was passt Wien nicht an der bundesweiten Schulschrift 1995? Ein großer Kritikpunkt ist, dass es für diese "auch weiterhin keine brauchbare digitale Vorlagen gibt", wie die Typografen Titus Nemeth und Martin Tiefenthaler in einer Broschüre zu ihrer neuen Schrift festhalten. Zum Hintergrund: Der Wiener Bildungsserver hat bereits in der Vergangenheit eine eigene digitale Version der Schulschrift angeboten – ebenso wie verschiedene andere Bundesländer. "Die alte Schrift erfüllte aber viele moderne Anforderungen nicht oder nur unzureichend, unter anderem beim Thema Inklusion", erklärt der Geschäftsführer des Bildungsservers, Donat Klingesberger. So fehlte zum Beispiel bei der digitalen Schulschrift 1995 das Háček (č), wie es etwa in den slawischen Sprachen verwendet wird. "Jedes Kind hat unserer Meinung nach das Recht, seinen Namen mit den richtigen Buchstaben schreiben zu können." Das sei künftig in knapp über 200 Sprachen möglich.

Die "neue", bundesweite Schulschrift gibt es seit 1995.

Außerdem die Verbindung von Buchstaben sei in digitalen Versionen der Schulschrift von 1995 ein Problem, erklärt Tiefenthaler im Gespräch mit dem STANDARD. Denn sie sind fixe Bestandteile der Buchstaben und dadurch unflexibel. Tiefenthaler ist Gründungsmitglied der Typografischen Gesellschaft, seine Buchstaben verändern sich auch digital je nach dem, welcher nach oder vor ihnen kommt. Folgt auf ein kleines O ein weiteres, wird die Schlaufe anders gezogen, als wenn an das O ein F oder L anschließt.

Die Wiener Schrift hat keine strikten Vorgaben, wie die Schlaufen verlaufen müssen.

Und die Probleme beim Schreiben mit der Hand? Die Buchstaben in der unverbundenen und der verbundenen Schrift von 1995 sehen nicht immer gleich aus – das sieht man etwa am kleinen R, B oder T. "Die Kinder müssen bei der Schreibschrift ganz neue Buchstaben lernen", sagt Tiefenthaler. Weshalb er und sein Kollege in der neuen Schrift die Buchstaben angeglichen haben. "Der Übergang funktioniert jetzt ganz organisch." Deutlich sieht man den Unterschied beim kleinen T, bei der Schulschrift 1995 war dieses an die Kurrentschrift angelehnt, nun soll es eher an die Druckschrift erinnern.

Während bei der Schulschrift von 1995 das t noch an die Kurrentschrift angelehnt ist, soll es in Wien moderner sein.

An der durchgehenden Linie liegt Tiefenthaler sowieso nicht allzu viel. "Verbinden oder nicht heißt eigentlich nur, ob ich den Stift in der Luft oder am Blatt führe – das ist bei uns freigestellt", sagt Tiefenthaler. Gar keine Verbindungen vorgeben, wie es zum Teil in Deutschland oder der Schweiz gelehrt wird, wollte man aber doch nicht. "Die Kinder müssen das Rad nicht neu erfinden. Sie die Verbindungen selbst finden zu lassen halten wir für einen Umweg", sagt der Typograf.

Neigung nach rechts

Sowohl die unverbundene als auch die verbundene Schrift haben beide eine leichte Neigung nach rechts. Dadurch soll die Basis für späteres beschleunigtes Schreiben gelegt werden. Die leichte Kippung gewährleiste "einen fließenden und harmonisch erlebten Übergang von der Druckschrift zur verbundenen Schrift", lautet die Erklärung der Typografen. Durch die Kursivität ließen sich auch zwei Probleme verhindern: ein langsames "Buchstaben-Malen" sowie die Entwicklung einer nach links geneigten Handschrift. Letztere gilt als schwer zu lesen.

Geändert wurden auch so manche Grundformen und Strichführungen. So würden Kreisformen schwerer zu schreiben sein als jede andere Form. Die Wiener Schrift vermeide sie. Auch werden "schmale Öffnungen" und leichte Verdickungen an Deckstrichen, deutlich machen, wie der Strich zu führen ist – das sieht man beispielsweise beim kleinen D. Im Vergleich zur älteren Schulschrift wurden "funktionslose Schnörkel und Schlaufen" weggelassen sowie "Schlaufen nicht größer als notwendig" gehalten.

Schrift keine Vorschrift

Die neue Schrift ist jedenfalls keine Vorschrift, sondern eine Empfehlung. Sie solle die "grundlegende Charakteristik des Schreibens" den Kindern nahebringen und die Lesbarkeit unterstützen, damit ein U nicht wie ein V aussieht und ein A nicht wie ein O, sagt Tiefenthaler. "Daraus entwickelt sich eine ganz persönliche Handschrift."

Die Schrift, die im April 2021 vom Bildungsserver beauftragt und mit 28.000 Euro gefördert wurde, soll nun unter einer "modernen Lizenz" angeboten werden, sagt Klingesberger. Ab Donnerstag ist die Schrift zum Download verfügbar. "Wir sind auch in enger Abstimmung mit den Einrichtungen der Stadt Wien, um die Schrift so bald wie möglich auf den Geräten aller Schulstandorte als zusätzliche Option anzubieten." Welche Schrift die Schulen verwenden, obliegt am Ende aber ihnen selbst.

Tiefenthaler würde gerne weiter an der Schrift basteln. Neben dem Schriftschnitt "Regular" und "Kursiv" sollten zwei weitere dazukommen. Dafür hätten die Typografen um Förderungen beim Bildungsministerium angesucht – und eine Absage erhalten. (Oona Kroisleitner, 23.2.2023)