Die Asiatische Tigermücke, Überträgerin vieler Krankheiten, wurde bereits in Österreich gesichtet.

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"Schnell" ist relativ: Geschwindigkeit braucht einen Bezugspunkt. Das gilt auch, wenn Andreas Januskovecz von "atemberaubenden" Geschwindigkeiten spricht. Die Strecken, von denen Januskovecz spricht, sind mitunter minimal. Manchmal geht es da um nur ein paar Meter pro Jahr.

Wäre Januskovecz Geologe, spräche er von Plattentektonik, würde das niemanden erstaunen. Doch der Ottakringer ist Förster. Leiter der MA 49, des Wiener Forst- und Landwirtschaftsbetriebes – vulgo "Forstamt". Tempo ist auch im Wald relativ: Wie rasch wächst Moos? Eben.

Klimawandel macht Arten Beine

Doch wenn Januskovecz erzählt, welche Pflanzen, Tiere und Pilze er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter "plötzlich" an bis dato für sie unerreichbaren Orten finden, wird rasch klar: Ein Meter pro Jahr kann schnell sein. Erst recht, wenn die "Bewegung" durch den Klimawandel initiiert ist: Der macht Arten Beine. Lässt sie wandern: "Das Tempo, mit dem das passiert, ist ein Irrsinn."

Redet man von Klimawandel und Arten, geht es meist ums Artensterben. Aber eben nicht nur: Der Blick auf den Verlust an Biodiversität, auf Gefährdung und Verschwinden verstellt gerne den auf einen anderen Prozess: das Besetzen oder erobern von Lebensräumen durch Neuzugänge. Durch Tiere, Pilze und Pflanzen, die mit den neuen Bedingungen plötzlich zurande kommen.

Manches davon wirkt unspektakulär. Dass es Gottesanbeterinnen früher zwar um, aber kaum in Wien gab etwa. Dass Wespenspinnen in der Stadt vor 15 Jahren eine Sensation waren. Dass Götterbaum, Chinesische Hanfpalme oder Südafrikanisches Schmalblatt-Greiskraut in freier Wildbahn heute normal sind. Und kaum jemand weiß, dass der gelbe Blütenstreifen am Autobahnrand Greiskraut ist – und über Lkw-Reifen eingeschleppt wurde. Immer schon, nur überstanden die Pflanzen vor zehn Jahren den Winter nicht. Heute ist das anders – und ein Problem: Dieses Greiskraut verdrängt andere Pflanzen, ist salz- und herbizidresistent. Und giftig.

Das Greiskraut wurde über Lkw-Reifen eingeschleppt.
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Der Neophyt am Gartenzaun

Andere "Neophyten" fallen nicht aus Reifen, sondern hüpfen über den Gartenzaun: Überlebte die chinesische Hanfpalme Winter früher nur, weil Kleingärtner sie pflegten (oder nach starkem Frost nachkauften), bedrängen sie – in der Schweiz – heute Eichenwälder. In (Ost-)Österreich drängelt dafür der Blauglockenbaum vom Garten ins Freie: Was Stadtgärtnern und -förstern hier beim ebenso "invasiven" Götterbaum einst nicht schafften, soll bei der Blauglocke durch radikales Wegschneiden und Ausreißen im Wald gelingen.

Wieso? Etwa um Tiere, die in und von den "alten" Pflanzen leben, den Lebensraum zu erhalten. Oder Boden zu schützen. So halten sich unter dem Blätterdach des japanischen Staudenknöterichs keine kleineren Pflanzen, erklärt Thomas Hübner. Die, so der Phänologe der zu Jahresbeginn in Geosphere Austria umbenannten Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG), sind der "Kitt", der den Boden zwischen den "Pfahlwurzeln" zusammenhält. Gefährlich wird das an Wasserläufen: Der Boden wird dann leichter aus- oder weggespült.

Frühling beginnt früher

Freilich: Der japanische Staudenknöterich ist kein "Neuzugang". Es gibt ihn hier schon lange. Sein verstärktes Aufkommen mit dem Klimawandel zu junktimieren wäre unwissenschaftlich: Bei vielen Pflanzen ist die Verbreitungsgeschwindigkeit langsamer als Erfahrungen und Beobachtungen der Klimaveränderung. Fakt ist aber, dass der "Frühling heute 14 Tage früher als in den 1970er-Jahren beginnt", erklärt Hübner. Diese Veränderung zeigen alle Pflanzen an. Und die dokumentiert die ZAMG seit ihrer Gründung 1851.

Die Phänologie – die Beobachtung jahreszeitlich-periodisch wiederkehrender Naturereignisse – fokussiert da auf sogenannte "Zeigerpflanzen". "Einwanderer" sind da auch bei: Die Rosskastanie kam 1556 vom Balkan. Die Robinie 1651 aus Nordamerika. Viele dieser Neophyten sind schlau: Besagte Robinie macht anderen Arten durch Stickstoffeinlagerungen in den Boden gern das Leben schwer.

Die Rosskastanie war ursprünglich auf dem Balkan heimisch.
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Sollen wir eingreifen?

Mit dem Klimawandel hatte all das lange wenig zu tun: Während der letzten 10.000 Jahre veränderten sich die globalen Durchschnittstemperaturen gerade um 0,5 Grad. Die letzten Jahrzehnte, so Daniel Hupmann, Mitautor des 1,5-Grad-Sonderberichtes des Weltklimarats, waren es in Österreich aber dann drei Grad: ein gewaltiger Game-Changer. In der Wachau gedeihen Feigen, der Spitzahorn "wandert" über das Murtal in den Lungau.

Was nach Einzelfällen und zufälligen Momentaufnahmen klingt, skizziert in Summe Wanderbewegungen in einem gigantischen Ausmaß. Dabei poppt eine Grundsatzfrage auf: Soll der Mensch lediglich beobachten – oder eingreifen?

Keine aktuellen Daten

Abgesehen davon fehlen für eine komplette "Wanderkarte" immer noch validen Daten: Die letzte ökologische "Inventarliste" der gebietsfremden Arten in Österreich, sagt Wolfgang Rabitsch vom Umweltbundesamt, stammt aus 2002. Ende 2023, hofft der Zoologe und Ökologe, soll es eine aktualisierte Version geben. Die Kategorie "Klimawandelprofiteure" ist dabei nicht vorgesehen.

Außerdem: Ab wann ist Arten-Bewegung Wandern? Und wie klassifiziert man die Gründe fürs Reisen? Wie trennt man "invasiv" und "fremdverursacht" von "durch Umwelteinflüssen begünstigt oder getriggert"? Klar: Der zuletzt omnipräsente Goldschakal, reist auf eigener Pfote – viele Pflanzen und Tiere werden aber von Lkws, Schiffen oder in Fracht "verschleppt". Das Resultat ist gleich: Den Goldschakal sieht Wiens oberster Förster Andreas Januskovecz in jedem Fall "in 15 Jahren an der Nordsee".

Ragweed in der Wohlfühlzone

Wobei Strecke vielleicht weniger zählt als Dichte, Häufigkeit – oder Impact: Ragweed, das Beifussblättrige Traubenkraut, kam vor Jahrzehnten über verunreinigtes Vogelfutter aus Nordamerika nach Europa. Doch vergangenen Sommer belegt eine Studie von Med-Uni Wien und Boku, was lange in der Luft lag: Die Klimaveränderung verlängert die Blütezeit der hochallergenen Pflanze. "Die Bekämpfung von Ragweed ist ein wichtiges Anliegen der öffentlichen Gesundheit und eine Anpassungsstrategie zur Eindämmung und Bewältigung der Auswirkungen des Klimawandels", erklärte im Sommer einer der Studienautoren, der Boku-Botaniker Gerhard Karrer. Was das mit Klima-Wanderungen zu tun hat? Ragweed "wandert" mit seiner Wohlfühlzone – Richtung Norden.

Wärmer wird es auch vertikal: Geschichten von Schneehase und Murmeltier, denen "nach oben hin der Berg ausgeht" – Umweltbundesamt-Zoologe Wolfgang Rabitsch zitiert hier sehr bewusst den kürzlich verstorbenen Ökologen Georg Grabherr – kennt man. Als Andreas Januskovecz in den 1990ern im Schneeberggebiet in Niederösterreich zu förstern begann, waren Eichen oberhalb von 900 Metern unbekannt. Ebenso wie etliche Parasiten aus der Ebene, die heute Alm-Weidevieh piesacken.

Viren mögen's heiß

Doch Blutsauger und andere Quälgeister gewinnen nicht nur auf dem Berg durch die Wärme an Boden: Schädlingsbekämpfer können da auch bei autochthonen Flöhen und Wanzen einiges über den Verzicht auf Winterruhe und höhere oder mehr Reproduktionszyklen erzählen. Nur: Wer redet schon mit dem "Kammerjäger" über seine oder ihre Wahrnehmungen zum Klimawandel?

Dabei ist durchaus spannend, was denen – so wie Forscherinnen und Forschern – in die Kontrollfallen geht: subtropische Stechmücken etwa, die sich dank der Erwärmung nun auch in Mitteleuropa ansiedeln. Und manchmal sogar ihre eingeschleppten Krankheitserreger an "unsere" Moskitos weitergeben. Dazu kommt aber noch etwas: "Viren können sich in Stechmücken schneller vermehren, wenn die Temperaturen höher sind. Da gibt es einen klaren kausalen Zusammenhang zur Klimaerwärmung", zitierte die dpa im August Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg.

Fünf neue Stechmücken-Arten in Österreich

Demnach können heimische Stechmücken mittlerweile das West-Nil-Virus übertragen. Wobei Helge Kampen vom Institut für Infektionsmedizin am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) in Greifswald (dem deutschen Bundesforschungsinstitut für Tiermedizin) da noch eine unangenehme Botschaft parat hat: "Wir haben seit 2007 fünf neue Stechmücken-Arten nachgewiesen."

Österreich ist keine Insel: Vergangenen Frühsommer wurden in der Steiermark und in Vorarlberg erstmals Asiatische Tigermücken nachgewiesen. Die aus den süd- und südostasiatischen Tropen stammende Stechmücke ist zum Glück vergleichsweise "flugfaul", legt also keine allzu großen Strecken zurück, kann aber Krankheiten übertragen. So wie ihre Verwandten, die Japanische und die Koreanische Buschmücke. Beide sind in Deutschland – und somit wohl auch in Österreich – längst heimisch. Zu den gefährlichen Erregern, die von den "Neuen" übertragen werden können, zählen Zika-, Dengue- und Chikungunya-Virus.

Die Wildschwein-Explosion

"Aktiver" als Mücken sind in Europa allerdings Zecken. Auch sie krabbeln der Wärme ich: So wurde mittlerweile auch die aus den Trocken- und Halbtrockengebieten Afrikas, Asiens und Süd-Europas beheimatete Hyalomma-Zecke entdeckt. Sie überträgt unter anderem das Krim-Kongo-Fieber und Zecken-Fleckfieber. Jeder zweite bisher gefundene Hyalomma-Zecke trug diese Erreger. Auch wenn die deutschen Forscher davon ausgehen, dass Mücken wie Zecken bleiben werden und nicht mehr ausgerottet werden können, besteht kein Grund zur Panik: Die Quälgeister sind selten. Noch: "Wir haben zwei Faktoren, die uns zu schaffen machen. Der eine ist die Globalisierung, der andere die Klimaerwärmung", sagt FLI-Experte Kampen.

Vergleichsweise "rustikal" wirkt da ein anderer Mosaikstein klimabedingten Wanderungen von Pflanzen und Tieren: Die "Explosion" (so Wiens Forst- und Klimadirektor Andreas Januskovecz) der Wildschweinpopulationen. Keine Frage: Schwarzkittel waren in Wien seit jeher im Wienerwald und der Lobau heimisch.

Ausbruch aus dem Schrebergarten

Doch dass sie nun – in ganz Mitteleuropa – immer öfter und näher in menschliche Siedlungsräume (also: Gärten) vordringen, ist so Januskovecz, "eine direkte Folge des Klimawandels": Dank wärmerer Winter finden sie früher, länger und mehr Eicheln. Sie können mehr Engerlinge aus dem (nicht gefrorenen) Boden herauswühlen. Das führt zu mehr Nachwuchs, mehr Sippen. Die suchen in neue Revieren mehr Futter. Etwa in Klein- und Schrebergärten – obwohl Wildschweine sonst einen Bogen um Menschen machen.

Apropos Schrebergärten: Dort sorgt die Klimaveränderungen nicht nur für Ein-, sondern auch für Ausbrecher. Die Kirschlorbeerhecke – nebenbei 2013 "Giftpflanze des Jahres" – etwa. Der blickdichte Prunus laurocerasus aus Kleinasien ist ein denkbar unbeliebter wie flotter Wanderer: Harte Winter mögen und vertragen die Samen zwar nicht, ein oder zwei Wochen milden Frost stecken sie aber locker weg.

Und wo sie dann austreiben, ist für niemand anderen mehr Platz: Momentan, beruhigt Wiens Oberförster Andreas Januskovecz, sei das im Wiener Raum kein Problem. "Noch. Es könnte aber eines werden. Und dann geht es ziemlich schnell." (Tom Rottenberg, 24.2.2023)