Ein Pulver aus der Wurzel des Ashwagandha-Strauchs ist gerade ein gehyptes Allheilmittel. In der indischen Heilmethode Ayurveda gilt der Busch als traditionelle Gesundheitspflanze.

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Es klingt wie eine besonders komplizierte Yogaverrenkung und soll bei Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Gelenkschmerzen, Fruchtbarkeitsproblemen und Impotenz helfen. Außerdem soll es die Hirnleistung und die Stimmung verbessern. Zumindest wird all das auf diversen Social-Media-Kanälen Ashwagandha zugeschrieben. Als Nahrungsergänzungsmittel ist die aus dem indischen Heilkonzept Ayurveda bekannte Pflanze bzw. deren Teile derzeit allgegenwärtig. Doch ist das Heilungspotenzial der Schlafbeere oder auch Winterkirsche, wie die Pflanze bei uns heißt, wirklich so groß?

Der deutsche Name lässt vermuten, dass es sich um eine Beere handelt, die man konsumiert, tatsächlich geht es aber um ein aus der Wurzel hergestelltes Pulver. "Der kleine Strauch gehört zu den Solanaceae, das sind die Nachtschattengewächse, zu denen auch Kartoffeln oder Tomaten gehören", erklärt Harald Sitte vom Zentrum für Physiologie und Pharmakologie der Med-Uni Wien. Zu dieser Gattung zählen auch verschiedene Genuss- und Rauschmittel wie Bilsenkraut, Alraune, Tollkirsche oder Tabak. Heimisch ist der Ashwagandha-Strauch in Afrika und Asien.

Zu uns dürfte die Pflanze über die indische Heilmethode Ayurveda gekommen sein, dort gilt der Strauch als traditionelle Gesundheitspflanze. Und tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass ihre Inhaltstoffe angstlösend, antientzündlich und immunmodulierend wirken. Doch das Problem dabei ist: Man weiß nicht, welcher Inhaltsstoff der Wurzel in welcher Zusammensetzung wie konkret wirkt.

Unklare Wirkung

"Dieser Strauch enthält in seinen verschiedenen Teilen 40 oder 50 Substanzen, besonders wichtig sind Lactone und verschiedene Alkaloide. Aber es ist nicht geklärt, was davon genau wirkt und wie man es dosieren muss. Deshalb ist Forschung in diesem Bereich dringend notwendig", betont Sitte. Der Pharmakologe, der an der Med-Uni Wien unter anderem das Wahlfach "Komplementärmedizin: Esoterik und Evidenz" leitet, sieht Wirkstoffe aus der Natur prinzipiell durchaus positiv: "Phytotherapie, also die Pflanzenheilkunde, ist eine der Grundlagen der modernen Heilkunde. Ausgehend von dieser wurden die ersten Gehversuche in der Pharmakologie unternommen, um gezielte Behandlungen durchzuführen. Denn Pflanzen entwickeln sehr wertvolle Substanzen mit einzigartigen Effekten, um sich vor ihren Fraßfeinden zu schützen." Doch er betont, dass diese Wirkstoffe gezielt beforscht werden müssen, damit sie als Arzneimittel eingesetzt werden können.

Das ist etwa bei Artemisinin passiert, einem Wirkstoff, der aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) stammt. Er kommt in den Blättern und Blüten des einjährigen Beifuß vor und ist die Grundlage für die Standardtherapien gegen Malaria. Die chinesische Pharmakologin Youyou Tu, die dessen Inhaltsstoffe mithilfe moderner pharmazeutischer Methoden bereits in den 1970er-Jahren isoliert hat und damit für einen Meilenstein sorgte, erhielt im Jahr 2015 dafür sogar den Medizinnobelpreis. Auch der wohl bekannteste Wirkstoff der Welt, Acetylsalicylsäure, die die Grundlage etwa von Aspirin bildet, geht auf eine Pflanze zurück. Die schmerzstillende Vorläufersubstanz Salicylsäure ist in der Weidenrinde enthalten.

Niedrigste Stufe der Evidenz

Solche Beispiele zeigen, dass man auch im komplementären Heilbereich sinnvolle Entdeckungen machen kann, sagt Sitte. Auch in Bezug auf Ashwagandha sieht er Potenzial. Dafür sei aber umfassende Forschung nötig, erst dann könne man möglicherweise bestimmte Wirkstoffe gezielt entwickeln und einsetzen. "Zum jetzigen Zeitpunkt beruht die Anwendung von Ashwagandha auf Erfahrungswerten. Das ist prinzipiell in Ordnung, Erfahrung ist auch in unserem Ärztegesetz ein Parameter in der Behandlung. Aber es ist nicht exakt definiert, was genau Erfahrung ist."

Wissenschaftlich gesehen ist Erfahrung die niedrigste Stufe der Evidenz. Das Problem, das Sitte dabei sieht: Damit kann man alles argumentieren. Sie kann aber keine wissenschaftliche Datenlage ersetzen. Gibt es den Erfahrungswert, dass eine Pflanze positive Wirkung für die Gesundheit haben kann, muss deshalb als Nächstes festgestellt werden, welcher Bestandteil der Pflanze genau welche Wirkung auslöst und in welcher Konzentration. Erst wenn mehrere doppeltblind randomisierte Studien in verschiedenen Settings zeigen, dass diese Wirkung repliziert werden kann, ist ein breiter Einsatz als Arzneimittel möglich. Bis es so weit ist, ist eine Wirkung denkbar, aber kann keineswegs als erwiesen gelten.

Alles ist Chemie

Dieser aufwendige Prozess wird aber von so manchen kritisch beäugt. Es ist ein oft gehörtes Argument, dass man lieber auf "natürliche" Wirkstoffe direkt aus der Pflanze setze, statt auf "pharmazeutische" oder "künstliche". Doch diese Unterscheidung ist einfach Blödsinn, stellt Sitte klar: "Es gibt oftmals keine Unterschiede zwischen natürlichen und nicht natürlich hergestellten Stoffen, alle Wirkstoffe sind letztlich chemischer Natur. Ob und wie sie wirken, ist in ihrer Zusammensetzung bedingt. Ob eine Pflanze, ein Tier oder womöglich Druck, wie etwa bei Erdöl, der Chemiker war oder ob ein Stoff nach Kochrezept in einem Labor hergestellt wurde, ist für seine Wirkung egal. Ich kann da wie dort das idente Endprodukt produzieren."

Der Glaube an "natürliche" Wirkstoffe ist auch deshalb gefährlich, weil jeder Wirkstoff Nebenwirkungen hat – und das wird bei phytotherapeutischen Mitteln oft vergessen. Bei der Schlafbeere gibt es diese unerwünschten Nebenwirkungen im Bereich des Bluts, der Extrakt hat Auswirkungen auf Blutzellen und Blutlipide. So kann es etwa zu erhöhtem Puls und Bluthochdruck kommen. Ebenso sind Auswirkungen auf die Leber möglich. Insgesamt ist das Mittel für normal gesunde Menschen wohl keine Gefahr. Aber ein Nutzen ist keinesfalls garantiert, und womöglich zahlt man viel für etwas, das im besten Fall sinnlos ist. (Pia Kruckenhauser, 5.3.2023)