Bevor der deutsche Politologe Carlo Masala am vergangenen Sonntag, dem letzten Tag der Sicherheitstag der Münchner Sicherheitskonferenz, das Atrium des Konferenzzentrums im Bayerischen Hof betritt, fragt mein Begleitschutz, wen ich denn nun treffen werde. "Den Carlo Masala, kennen Sie vielleicht aus diversen Talkshows oder vom Podcast." – "Ja ja, der sagt mir was." Viele kennen Masala nach einem Jahr Krieg mittlerweile, regelmäßig tritt er im beliebten und informativen Podcast "Sicherheitshalber" auf. Wegen seines Twitter-Profilbilds (Tyrion Lannister) erkennen ihn nicht immer alle, aber wir finden uns rasch. Am Vorabend hat Masala den deutschen Verteidigungsminister auf der Bühne interviewt.

STANDARD: Wir haben auf der Münchner Sicherheitskonferenz dringende Appelle für Munitionslieferungen an die Ukraine gehört. Wie schlecht ist es um die Bestände bestellt?

Masala: Wir wissen nicht genau, wie viel Munition die Ukrainer noch haben, aber das können Sie relativ leicht ausrechnen. Von Mai bis Juni 2022, als die Kämpfe im Donbass hauptsächlich mit der Artillerie geführt wurden, gab es präzise Schätzungen, wonach die Russen bis zu 60.000 Artillerie-Munition pro Tag abgeschossen haben. Die Munitionsbeschaffung und Munitionsproduktion ist in Europa in den letzten Jahren aber massiv zurückgegangen. So sagt der Generalinspekteur der (deutschen) Bundeswehr etwa: Wenn die Bundeswehr in einen Krieg eintreten würde, wären nach zwei bis vier Tagen die Munitionsbestände aufgebraucht. Und jetzt steht sie vor dem Problem, dass die ukrainischen Munitionsproduktionsanlagen kaputt sind.

STANDARD: Zerbombt von den Russen?

Masala: Genau. Und damit kommen sie an die russischen Kapazitäten, wo natürlich weiterhin produziert wird, nicht heran. Deshalb muss hier die Munitionsproduktion extrem hochgefahren werden, denn ohne Munition nutzen dir die ganzen modernen Waffensysteme nichts mehr, wenn sie nicht mehr schießen können.

Zu wenig, zu spät, sagt Experte Masala.
Foto: REUTERS/Brendan McDermid

STANDARD: Hat der Westen da zu spät reagiert?

Masala: Man hat das verschlafen. Aber das hängt natürlich auch damit zusammen, dass nicht klar war, wie lange dieser Krieg dauern wird. Man hat stets geliefert, sich gleichzeitig aber wenig Gedanken gemacht, was passiert, wenn dieser Krieg länger geht, als wir alle glauben. Und dann müssen wir über Ersatzteile, Munition und die Nachfuhr jener Geräte reden, die wir schon geliefert haben. Denn natürlich geht das auch kaputt oder wird zerstört. Und in dieser Phase befinden wir uns jetzt, davon war auch die Münchner Sicherheitskonferenz gekennzeichnet. Dass man versucht, eine nachhaltige Unterstützung der Ukraine zu finden.

STANDARD: Was sagen Sie dazu, dass der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow auf eigenem Staatsgebiet Streumunition einsetzen möchte?

Masala: Ich finde das nicht besonders clever.

STANDARD: Weil es diese internationale Ächtung gibt?

Masala: Ja. Die Ukraine vertritt den Standpunkt – und da hat sie recht –, dass sie diesen Verbotsantrag nicht unterschrieben hat. Und wenn man den nicht unterschrieben hat, kann man diese Munition einsetzten. Nun ist es aber so, dass man hier von Munition redet, die von vielen Staaten geächtet ist. Und da wäre es sehr unglücklich, Munition von jenen Staaten zu fordern, die diese geächtet haben. Aus der ukrainischen Perspektive kann ich das aber verstehen. Das Problem bei Cluster Munition ist ja, dass man da im Prinzip ein kleines Minenfeld legt. Jetzt sagt die Ukraine, dass die Russen bei ihnen ohnehin alles vermint hätten. Also wo sei das Problem, wenn sie kleine Minenfelder legen? Aus der militärischen Logik kann ich das nachvollziehen. Aber es ist nun mal Faktum, dass die meisten europäischen Staaten diese Ächtung teilen und wäre es relativ unglücklich, von denen solche Waffen zu fordern.

STANDARD: In den vergangenen Wochen gab es zahlreiche Videos, die zeigten, wie russische Panzer etwa im Kampf um Wuhledar in Minenfelder reinfahren und einer nach dem anderen hochgehen.

Masala: Da sehen Sie mal, wie schlecht trainiert die sind.

STANDARD: Aber wie sehr erschwert diese massive Verminung durch die Ukraine etwaige Gegenoffensiven?

Masala: Bei den eigenen Minen wissen sie ja, wo sie liegen. Aber es geht auch um die Minen, die die Russen womöglich gelegt haben, um eine großflächige Gegenoffensive der Ukraine zu verhindern. Das ist in der Tat ein Problem. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie vermint das Gelände ist im Donbass von russischer Seite. Wenn es stark vermint ist, werden Gegenoffensiven problematisch.

STANDARD: Hat die Mine in diesem Krieg ein bisschen ein Comeback gefeiert, oder war sie nie weg?

Masala: Sie war nie weg. Wir sehen in sämtlichen Bürgerkriegen, welch starke Rolle sie spielt.

Die Mine war nie weg, sagt Masala.
Foto: APA/AFP/YASUYOSHI CHIBA

STANDARD: Welche Waffe war bisher die entscheidendste Waffe in diesem Konflikt?

Masala: Es gibt keine entscheidende Waffe. Artillerie ist sehr prominent, Mehrfachraketenwerfer wie Himars und Mars II haben dafür gesorgt, dass die Ukraine diese Gegenoffensive ab August fahren konnten. Es sind viele Waffen geliefert worden, die sehr wichtig waren. Aber die wichtigste Waffe ist die ukrainische Gesellschaft, die diesen Krieg unterstützt, und zwar direkt und indirekt.

STANDARD: Mehr als 90 Prozent wären laut Umfragen bereit, auch nach einem Angriff mit Nuklearwaffen weiterzukämpfen.

Masala: Das ist eine Gesellschaft, die ihr Territorium verteidigen will, und das ist die wichtigste Waffe, die die Ukraine hat.

STANDARD: Was hat Sie in einem Jahr Krieg am meisten überrascht, und welche Überraschungen können wir noch erwarten?

Masala: Die größte Überraschung für mich war die Agilität der ukrainischen Streitkräfte und die Art und Weise, wie sie dort vorgehen, wie sie dort kämpfen. Ebenso die Art und Weise, wie die Gesellschaft in die Kriegshandlungen miteinbezogen wurde mittels Data Fusion. Es gibt viele Geopositionspunkte, die mit Handys an militärische Stellen geschickt, dort nochmal gegengecheckt und dann direkt ins System eingespeist werden. Was noch zu erwarten ist? Es immer schwierig, im Krieg von Überraschungen zu reden, weil der Krieg von Überraschungen lebt.

STANDARD: Wolodymyr Selenskyj sagte, der Krieg begann mit der Krim und wird mit der Krim enden. Wenn es die Ukraine schafft zu zeigen, dass niemand auf einer russisch annektierten Krim sicher ist, bröckelt dann sein Prestigeprojekt?

Masala: Ja, absolut. Sollte die ukrainische Gegenoffensive kommen, halte ich es für für eine wichtige Aufgabe, die südliche von der östlichen Front zu trennen. Und wenn sie das schaffen, können sie den Druck auf die Krim erhöhen.

STANDARD: Wie trennt man die Fronten? Indem man eine Schneise schlägt?

Masala: Genau. Und wenn die Krim gefährdet ist, gibt es eine Wahrscheinlichkeit, dass sich in Russland etwas verändert im Denken. Und dann stehen wir möglicherweise am Beginn von Verhandlungen über eine Beendigung des Krieges, die seitens der Russen nicht mit Vorbedingungen geführt werden.

STANDARD: Es muss also eine Seite an einem militärisch aussichtslosen Punkt ankommen?

Masala: Sie müssen die Kosten-Nutzen-Kalkulation verändern. Das zeigt jeder Krieg. Wenn eine Seite die Auffassung hat, dass sie von einer Fortführung des Krieges mehr zu verlieren hat als vom eigenen Anhalten, ist sie eher bereit zu Verhandlungen. Momentan sind wir in einer Situation, in der die Russische Föderation der Auffassung ist, sie gewinnt mehr, wenn sie diesen Krieg fortführt.

STANDARD: Nun gibt es momentan Diskussionen, ob die russische Offensive begonnen hat oder nicht. Es heißt immer, Moskau wird sich davor hüten, den Beginn einer Offensive zu kommunizieren. Was ist Ihre Einschätzung?

Masala: Die Vorstellung, die die meisten hatten, war immer, dass diese Offensive massiv entlang des ganzen Frontabschnittes erfolgen wird. Das sehen wir in der Tat nicht. Aber wir sehen über den ganzen Frontabschnitt verteilt im Donbass verstärkte russische Aktivitäten. Und ich glaube, da kann man schon durchaus davon reden, dass diese Offensive begonnen hat.

STANDARD: Was wäre das logische Ziel einer aktuellen russischen Offensive?

Masala: Das hat Waleri Gerassimow, der Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, am 22. Dezember ganz klar formuliert. So viel Territorium im Donbass zu gewinnen wie möglich.

STANDARD: Es geht darum, die Oblastgrenzen von Donezk und Luhansk sozusagen "auszufüllen"?

Masala: Genau, richtig. Deren komplette Eroberung ist aktuell der Fokus der russischen Streitkräfte.

STANDARD: Sollte es in Verhandlungen eines Tages zu territorialen Zugeständnissen kommen: Muss man da bei der Bereitschaft der Ukraine, für ihr Land zu kämpfen, nicht mit jahrelangen Guerillataktiken rechnen?

Masala: Die Ukraine wird nicht mit der Bereitschaft, etwas abzutreten, in Verhandlungen reingehen. Und wenn etwas abgetreten werden würde, das nicht einem ukrainischen Referendum unterzogen und dort positiv entschieden wird, dann werden wir dort einen Partisanenkrieg erleben, der blutiger sein wird als all das, was wir jetzt sehen, und länger dauern wird. (Fabian Sommavilla aus München, 23.2.2023)