Marillen, Ei, Salz, Kristallzucker. Die Köchinnen und Köche stehen dicht beisammen und beobachten konzentriert, wie der Chefkoch die letzten Handgriffe für das Mittagessen erledigt. Auf dem Speiseplan stehen heute "Wiener Wäschemädel", eine traditionelle Mehlspeise. Sobald die Vorführung zu Ende ist – gekocht wird hier schließlich nicht für echte Gäste, der Chefkoch ist eigentlich Lehrer an der Berufsschule für Gastgewerbe in Wien-Meidling, und die Köche sind in Wahrheit Lehrlinge –, gibt es für die Klasse kein Halten mehr.

"Man ist ein besserer Hilfskoch und wird bezahlt wie ein schlechterer Hilfskoch", erzählt ein Lehrling über seine Zeit im Betrieb. "In der Arbeit muss alles schnell gehen. Kaum einer zeigt dir, wie was gemacht wird", sagt ein anderer. "Ich würde mir bessere Arbeitszeiten und keine Zwölf-Stunden-Tage wünschen", meint eine Schülerin. Da meldet sich der Lehrer der Klasse zu Wort: In der Lehre sind Zwölf-Stunden-Tage nicht erlaubt, wendet er ein. "Im Dezember ist legal egal", antwortet die Schülerin. So viel habe sie in der Gastronomie schon gelernt. Andere erzählen, dass ihr Arbeitgeber jeden Arztbesuch in der Dienstzeit kritisch hinterfragt, "Krankenstände sind nicht gern gesehen". Was verdienen die Lehrlinge im zweiten Jahr? Um die 850 Euro im Monat.

Die duale Ausbildung in Österreich gilt als weltweites Vorzeigemodell. Statt nur Theorie oder nur Praxis zu erlernen, kombiniert eine Lehre theoretische mit fachlicher Ausbildung. Gerade in Zeiten eines zunehmenden Fachkräftemangels in vielen Industrieländern wird im Ausland anerkennend auf das Modell geblickt. Erst vor kurzem besuchte US-Arbeitsminister Marty Walsh Österreich und ließ sich ein Ausbildungszentrum für Lehrlinge bei der Voestalpine in Linz zeigen.

In Österreich selbst fristet die Institution allerdings oft ein Schattendasein: Im Schnitt wählt rund ein Drittel allerJugendlichen nach der Pflichtschule eine Lehrlingsausbildung. Es gibt in Österreich mehr Lehrlinge als Jugendliche, die eine AHS-Oberstufe besuchen. In den bildungspolitischen Debatten kommt die Lehre dennoch ebenso so selten vor wie im arbeitsmarktpolitischen Diskurs, wenn man einmal von PR-Kampagnen absieht.

Dabei gibt es genug Probleme: Die Klage, als vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt und schlechter bezahlt zu werden, kommt nicht bloß von den angehenden Köchinnen und Köchen in Wien-Meidling.

Wo die Einkommen steigen und ...

Doch es gibt Anzeichen für einen Wandel, auch wenn noch unklar ist, wie weitreichend dieser sein wird.

"Der Lehrstellenmarkt ist tatsächlich einer der wenigen Bereiche des Arbeitsmarktes, wo wir auf Basis von harten Fakten Knappheiten feststellen können", sagt der Ökonom Benjamin Bittschi vom Forschungsinstitut Wifo. Soll heißen: In Österreich klagen Unternehmen laufend über fehlende Arbeitskräfte. Viele Stellen können nicht besetzt werden. Für Ökonomen ist aber die Frage zentral, ob eine behauptete Knappheit auch objektiv messbar ist. Das ist der Fall, wenn der Preis für ein Gut, in diesem Fall ist es die Arbeitskraft, steigt.

Und das geschieht am Lehrstellenmarkt. Seit 2019 gibt es bei Lohnverhandlungen in vielen Branchen deutlich höhere Abschlüsse zugunsten von Lehrlingen, wie eine Auswertung des Wifo für den STANDARD zeigt. In der Pandemie ist die Entwicklung unterbrochen worden, aber 2023 setzt sich der Trend fort.

Das Mittagessen in der Berufsschule will auch gekocht sein: Lehrlinge bei der Ausbildung.
Foto: Fischer

Ein Beispiel: Bei den Metallern summiert sich der Anstieg der Löhne bei den Arbeitern seit 2019 auf 17,6 Prozentpunkte. Bei den Lehrlingen waren es seitdem fast 29 Prozentpunkte plus. Einen überproportionalen Anstieg der Lehrlingseinkommen gibt es heuer auch im Handel, bei der Mineralölindustrie, der Stromerzeugung, und selbst bei Banken gibt es eine kleine Differenz. Im Hotel- und im Gastgewerbe einigte man sich am Mittwoch in der dritten Verhandlungsrunde auf ein durchschnittliches Lohn- und Gehaltsplus von 9,3 Prozent. Bei den Lehrlingen ist es mehr: Im ersten Lehrjahr bekommen die jungen Männer und Frauen beispielsweise mit 925 Euro um 13,5 Prozent mehr als bisher.

Wind hat gedreht

Die Entwicklung dürfte insgesamt Folge davon sein, dass der Wind am Markt gedreht hat. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat es in Österreich unterm Strich stets mehr Menschen auf Lehrstellensuche gegeben als unbesetzte Stellen. Besonders in Ostösterreich war das Überangebot sehr groß. Deshalb wurde eine eigene Ausbildungsschiene, die überbetriebliche Lehre, beim AMS ins Leben gerufen.

Aktuell allerdings gibt es deutlich mehr offene Lehrstellen als interessierte Lehrlinge. Das einzige Bundesland, in dem Ausbildungsplätze immer noch fehlen, ist Wien.

Spannend wird sein, ob sich nun auch ein Wettlauf um Lehrlinge in Sektoren entwickelt, die nicht für ihren guten Ruf bekannt sind. Die Qualität der Lehrausbildung hängt von mehreren Faktoren ab, sagt Christian Hofmann, Experte für Lehrlingsfragen bei der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA-djp). Am oberen Ende der Skala, was die Qualität der Ausbildung betrifft, stehen jene Unternehmen, die für Eigenbedarf ausbilden und Lehre als Teil der Personalrekrutierung ansehen. Am unteren Ende der Skala sind Unternehmen und Branchen mit hoher Fluktuation.

Wo Lehrlinge 655 Euro verdienen

Typisches Beispiel für Letzteres: Gastro und Tourismus. Langfristigere Planung gibt es vor allem in Industriebetrieben. Eine weitere wichtige Unterscheidung richtet sich nach der Größe des Betriebes: Je größer ein Unternehmen, umso geregelter läuft die Ausbildung ab, während kleine Betriebe ihre Lehrlinge tendenziell öfter als Hilfskräfte ansehen. Die Ausbildung am Job geschieht dann in der Praxis ausschließlich in der Berufsschule. Bei handwerklichen Berufen ist das häufiger der Fall.

Eine interessante Stellung nimmt der Handel ein. Hier haben sich die Vorzeichen verändert. Die Branche bemüht sich zusehends um Lehrlinge. So verfügt Spar über eine eigene Berufsschule mit gutem Ruf. Die großen Ketten zahlen Lehrlingen deutliche Aufschläge zu den vom Kollektivvertrag vorgegebenen Mindestgehältern. Hofer etwa bietet jedem Lehrling schon im ersten Lehrjahr etwas über 1000 Euro an. Kein Wunder: Es drängen zu wenige junge Menschen in den Sektor, selbst in Wien gibt es mehr offene Lehrstellen im Einzelhandel als interessierte Jugendliche.

Aber auch hier gibt es Nachholbedarf: Ein Lehrling im ersten Lehrjahr bekommt laut Kollektivvertrag im Handel aktuell gerade 800 Euro im Monat, im zweiten sind es knapp über 1000. Jede Studentin oder jeder Student, die bzw. der in einem Handelsgeschäft einen Ferialjob verrichtet, muss den Mindestlohn bekommen, was bei einer Vollzeitstelle für Hilfstätige 1817 Euro wären. An diesem Gesamtbild ändert auch die Tatsache wenig, dass Lehrlinge im Schnitt nur vier Tage im Betrieb sind – und einen Tag in der Berufsschule, was auch zur Arbeitszeit gehört.

Solche strukturellen Benachteiligungen machen deutlich, dass die Lehre keine akademische Ausbildung ist und damit gesellschaftlich nicht den Stellenwert hat.

"Cool zu sehen, was man kann"

In vielen Branchen bleiben die Einkommen der Lehrlinge generell sehr niedrig: Ein Florist erhält gerade 655 Euro im ersten Lehrjahr, selbst nach drei Jahren sind es nur 945 Euro. Die gute Nachricht aus Sicht derer, die eine duale Ausbildung absolvieren, ist, dass ihr Risiko, arbeitslos zu sein, im Verhältnis zu jenen, die nur die Pflichtschule beendet haben, um ein Vielfaches niedriger ist. Da Lehre für beide Sozialpartner wichtig ist, ist im Kollektivvertrag meist dafür gesorgt, dass ausgebildete Fachkräfte besser bezahlt werden.

Auch den angehenden Köchinnen und Köchen in Meidling ist der Appetit auf den Job nicht vergangen. Mit Stress in der Küche klarzukommen und gebraucht zu werden freut sie. Gerichte zu kochen, die den Gästen auch noch schmecken, sei jedes Mal ein Erfolgserlebnis, erzählt eine Berufsschülerin. "Es ist cool zu sehen, was man alles kann." (András Szigetvari, 23.2.2023)