"Es wäre eine Riesenblamage, wenn uns Karlsruhe mal wieder den Marsch bläst", sagt Tessa Ganserer über Verzögerungen beim Selbstbestimmungsgesetz.

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Tessa Ganserer hat sich während ihrer Amtszeit im bayerischen Landtag als trans geoutet – als erste deutsche Abgeordnete. Mittlerweile sitzt die Grüne im Bundestag, vor kurzem war sie auf Einladung der Wiener Grünen in Wien. Im STANDARD-Interview bezeichnet die 45-Jährige das neue Selbstbestimmungsgesetz, mit dem Geschlecht und Vorname in einem einfachen Verfahren am Standesamt selbst geändert werden können, als längst überfällig, damit Betroffene ihre Grundrechte nicht mehr vor dem Verfassungsgericht einklagen müssen. Zudem spricht sie über die Stimmung in der deutschen Ampelkoalition und die Wahrung grüner Grundsätze, während in Europa Krieg herrscht.

STANDARD: Die deutsche Ampelkoalition ist jetzt seit etwas mehr als einem Jahr im Amt. Wie empfinden Sie die Stimmung?

Ganserer: Ich sehe eine große Einigkeit zwischen den Bündnispartner:innen in gesellschaftlichen Themen. Bei so vielem, unter anderem im Queerbereich, Wahlalter 16, Frauenrechte – etwa die Abschaffung von Paragraf 219a –, ist eine ganz große Schnittmenge vorhanden, keine andere mögliche Regierungsmehrheit in Deutschland hätte sich da so viel vorgenommen und so viel Gemeinsamkeit.

STANDARD: Zuletzt sind einige Entscheidungen gefallen, die sich auf den ersten Blick nicht so leicht mit grünen Grundsätzen vereinbaren lassen. Wie geht es Ihnen mit Panzerlieferungen an die Ukraine?

Ganserer: Das löst garantiert keine Begeisterungsstürme bei mir aus. Aber kein Mensch hat in den Koalitionsverhandlungen mit einem völkerrechtswidrigen Angriff in Europa gerechnet. Das sind Ereignisse, die einen total unerwartet treffen, auf die man Antworten finden muss. Die Ukraine hat das Recht, sich als souveräner Staat zu wehren, deswegen stehen wir auf ihrer Seite und unterstützen sie, auch mit Waffenlieferungen.

STANDARD: Im Zuge der Energiekrise wurden auch die Laufzeiten deutscher Kohlekraftwerke verlängert. Kann die Klimawende so noch gelingen?

Ganserer: Auch hier gibt es keine einfache Antwort. Die große und wirklich drängende Zukunftsvision ist eine CO2-neutrale Gesellschaft, aber wir können die Augen vor dem heute ganz konkret Notwendigen nicht verschließen. Und wir können nichts an der Vergangenheit ändern. Die unionsgeführte Bundesregierung hat den Ausbau der Erneuerbaren nicht nur sträflich vernachlässigt, sondern auch einiges unternommen, um den Ausbau auszubremsen und abzuwürgen. Und das rächt sich jetzt. Um die Versorgung zu gewährleisten, mussten wir pragmatisch handeln und die Kraftwerke länger laufen lassen. Das war jetzt notwendig, aber in die Zukunft gerichtet haben wir ein Bündel an Gesetzesänderungen beschlossen, um den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen. Bei den SDGs (UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, Anm.) hat uns die Corona-Pandemie natürlich auch zum Teil zurückgeworfen. Manchen Zielen nähern wir uns auch einfach nicht oder bewegen uns rückläufig. Wir brauchen da auch einen anderen Politikstil, der das Ausverhandeln transparenter macht.

STANDARD: Ein Vorhaben der Koalition ist das neue Selbstbestimmungsgesetz, das bis zum Sommer verabschiedet werden soll. Warum gab es zuletzt Verzögerungen bei der Arbeit am Gesetzesentwurf, welche "Fachfragen" mussten da noch geklärt werden?

Ganserer: Auf der Arbeitsebene sind alle Fragen geklärt. Der Referentenentwurf ist fertig, wir warten auf die Freigabe vom FDP-Justizminister Marco Buschmann. Die Probleme, die er noch sieht bzw. im Jänner öffentlich gemacht hat, sind auf Arbeitsebene eigentlich keine Frage. Da ging es um Frauensaunen, er hat das indirekt an das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geknüpft. Dieser Umgang lässt sich auch jetzt schon ohne Reform des Gleichbehandlungsgesetzes mit dem Hausrecht, das alle Betreiber:innen haben, problemlos im individuellen Fall klären.

STANDARD: Warum ist das Gesetz aus Ihrer Sicht so wichtig?

Ganserer: Das Bundesverfassungsgericht spricht seit Ende der 1970er-Jahre, wenn es um die Grundrechte von transgeschlechtlichen Menschen geht, eine sehr stringente Rechtsprechung. Es stützt sich immer wieder auf zwei zentrale Punkte: dass es mittlerweile anerkannter Stand der Wissenschaft ist, dass sich Geschlechtlichkeit nicht allein anhand von bei der Geburt feststellbaren Merkmalen festmachen, sich nicht allein anhand von Chromosomen und Hormonen bestimmen lässt, sondern dass es im Wesentlichen auf das Wissen um die eigene Geschlechtlichkeit, die sogenannte Geschlechtsidentität ankommt. Und zweitens, dass diese Geschlechtsidentität der intimste Teil der grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechte ist, diese entziehen sich jeder staatlichen Kontrolle.

STANDARD: Es gibt hier also ähnliche Verfassungsgerichtsurteile über mehrere Richter:innengenerationen hinweg?

Ganserer: Ja. In die gleiche Richtung geht auch eine Resolution des Europarats aus dem Jahr 2015, die die Mitgliedsstaaten dazu auffordert, einfache, schnelle Verfahren zur amtlichen Personenstandsänderungen einzuführen, die ohne Zwangsbegutachtung auskommen. Wir haben jahrzehntelang transgeschlechtliche Menschen psychopathologisiert, die WHO hat diese Fehler jetzt auch offiziell revidiert, im internationalen Katalog der Krankheiten ist Transgeschlechtlichkeit seit 2022 nicht mehr unter psychischen Störungen gelistet. Diese Entpathologisierung muss jetzt auch im Gesetz erfolgen. Es ist einfach so überfällig. Wir sind als Ampelkoalition für ein gutes gesellschaftliches Miteinander angetreten, und wir wollen die Grundrechte von allen Menschen per Mehrheitsbeschluss im deutschen Bundestag wahren, damit Betroffene ihre Grundrechte nicht mehr vorm Verfassungsgericht einklagen müssen. Ich fände es eine Riesenblamage auch für meine politische Arbeit, wenn uns Karlsruhe mal wieder den Marsch bläst.

STANDARD: Können Sie die Ängste in der Debatte über das Gesetz, vor allem von Cisfrauen um Schutzräume, nachvollziehen?

Ganserer: Ich nehme die Sorgen sehr ernst, weil Gefühle einfach sehr mächtig sind. Angst ist ein extrem mächtiges Gefühl. Dann spielt es keine Rolle für den Menschen, der Angst erlebt, ob diese Angst berechtigt oder unbegründet ist, er hat in dem Moment Angst. Es gibt rechtspopulistische Kräfte, die sehr gezielt Schreckgespenster an die Wand malen, um Ängste zu schüren, weil man die Menschen dann bei dieser Angst packen kann, indem man ihnen verspricht, dass man sie davor bewahrt. Beim Thema geschlechtliche Vielfalt gibt es an ein paar Stellen Sachen, die wir gesellschaftlich ausverhandeln müssen, wo die Gesellschaft einen gewissen Umgang noch erlernen muss.

STANDARD: Wie nehmen Sie den Dialog über das Selbstbestimmungsgesetz wahr?

Ganserer: Den persönlichen Dialog erlebe ich in den meisten Fällen als sehr konsensorientiert und lösungsorientiert. Im Gegensatz zu den sozialen Medien, da findet kein Diskurs statt, sondern ein regelrechtes Hetzen.

STANDARD: Wie empfinden Sie es in klassischen Medien?

Ganserer: Viel zu wenig und mitunter manchmal auch schon ins Populistische abgleitend. Bei den Schutzräumen kommen immer wieder Befürchtungen hoch, manchmal wird auch immer denselben Stimmen Raum gegeben. Die Stimme der Frauenhauskoordination finde ich in den klassischen Medien fast nicht existent, viel zu leise wahrnehmbar. In Deutschland gibt es eine katastrophale Unterversorgung, was Frauenhäuser betrifft. Es ist eine Katastrophe, dass Frauen abgewiesen werden müssen, egal ob cis oder trans, weil Frauenhäuser voll sind. Dass bei Betroffenen dann Ängste existieren, verstehe ich, das muss man ernst nehmen, und das müssen wir lösen. Es gibt Frauenhäuser, die sagen: Wir können das vor Ort in unserer Einrichtung nicht organisieren. Das muss ich als transgeschlechtliche Frau, als Politikerin akzeptieren, dass konkret in Einzelfällen solche Entscheidungen vor Ort getroffen werden.

STANDARD: Was ist die Position der Frauenhauskoordination?

Ganserer: Als Frauenhauskoordination haben sie sich sehr deutlich für das Selbstbestimmungsgesetz positioniert, weil es ihnen gelungen ist, die beiden Ebenen zu trennen – die Versorgungslage, die Entscheidungen in den einzelnen Einrichtungen muss man losgelöst vom Recht auf Selbstbestimmung bei transgeschlechtlichen Menschen betrachten. Das Recht auf Selbstbestimmung steht nicht zur Verhandlung, es benötigen alle Frauen Schutz, es braucht einfach mehr Mittel. Diese Unterversorgung darf nicht dazu instrumentalisiert werden, der Gruppe der transgeschlechtlichen Menschen das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Das ist eine sehr ausdifferenzierte Position – die allerdings nicht reißerisch ist. Das ist unter Umständen der Grund, warum solche sachlichen, ausdifferenzierten Stimmen viel zu wenig Gehör finden. Das wäre aber notwendig, um wirklich einen gesamtgesellschaftlichen und sachlichen Diskurs führen zu können.

STANDARD: Kritiker:innen des Selbstbestimmungsgesetzes sprechen auch oft das Beispiel Gefängnisse an. Gibt es hier aus Ihrer Sicht eine Lösung?

Ganserer: Gewalt im Strafvollzug ist ein Thema, das wir uns als Gesellschaft anschauen sollten. Es gibt auch Vorfälle unter cisgeschlechtlichen Inhaftierten, in Männer- und in Frauengefängnissen. Wir können nicht transgeschlechtliche Menschen in Gefängnissen pauschal als Gefährdungspotenzial brandmarken, während wir transgeschlechtlichen Frauen, die in Männergefängnissen sind und dort (sexualisierte) Gewalt erfahren, keine Stimme geben. Ich habe da nicht die Königslösung parat. Vielleicht wären spezielle Haftanstalten oder Abteilungen eine Möglichkeit. Letztendlich wird es individuelle Einzelfallentscheidungen brauchen. Die Vollzugsbehörden sind per Gesetz für den Schutz der Inhaftierten verantwortlich, und zwar für alle. Wir haben einfach noch keinen Weg gefunden, wie wir mit normabweichenden Körpern umgehen. Das kann uns gefallen oder nicht, aber wir können uns nicht über höchstrichterliche Rechtsprechung hinwegsetzen. Transgeschlechtliche Menschen mit normabweichenden Körperlichkeiten existieren, und das ist ihr Menschenrecht. Es geht nicht, dass man sie per se gesellschaftlich wieder ausgrenzt.

STANDARD: Immer wieder kommt auch die Kritik am Gesetz, dass es dann nur mehr eine Frage des "Willens" sei. Sehen Sie hier kein Missbrauchspotenzial? Sind 14-Jährige, die den Geschlechtseintrag mit Zustimmung der Sorgeberechtigten künftig ändern lassen können, zu jung?

Ganserer: Bei der Frage der Ernsthaftigkeit zitiere ich gerne die Studie des Deutschen Jugendinstituts, "Coming-out – und dann ...?", aus dem Jahr 2015, an der auch mehrere Hundert transgeschlechtliche Jugendliche teilgenommen haben. Da wurde das Alter des "inneren Coming-outs" abgefragt, also der Zeitpunkt, ab wann ein Mensch um seine eigene Geschlechtlichkeit weiß. Ab dem Moment, wo er es nicht nur spürt, sondern selbst für sich voll bewusst ist und sich auch akzeptiert. Weit über zwei Drittel gaben an, bei ihnen sei das spätestens zu Beginn der Pubertät der Fall gewesen. Das "äußere Coming-out", also der Zeitpunkt, ab dem transgeschlechtliche Menschen ihre Geschlechtlichkeit leben und sich ihrer Umwelt mitteilen, fand im Durchschnitt zwischen 17 und 19 Jahren statt.

Die meisten wissen also viele Jahre vor ihrem Coming-out schon Bescheid. Bei der Frage nach den Gründen, warum sie so lange gewartet haben, war die Antwort: aus Angst. Vom Elternhaus nicht unterstützt zu werden, in der Schule nicht ernst genommen zu werden, gehänselt, verspottet zu werden, Gewalt zu erfahren, Nachteile zu erleben. Genau das, wovor transgeschlechtliche Jugendliche sich vor ihrem Coming-out gefürchtet haben, ist trauriger Alltag. Über 90 Prozent der Befragten berichten genau über solche Folgen. Das zeigt mir, dass transgeschlechtliche Jugendliche, wenn sie sich outen, sehr reflektiert sind, in dieser Zeitspanne aber am empfindlichsten, am enormsten abhängig sind und am wenigsten selbst ihre Rechte durchsetzen können. Deswegen finde ich es sehr wichtig, Jugendlichen ab 14 die Möglichkeit geben, wie bei der Religionsmündigkeit zu entscheiden. (Noura Maan, 28.2.2023)