Pablo Neruda im Oktober 1971 in der chilenischen Botschaft in Paris bei einer Pressekonferenz. Dem Diplomaten und Schriftsteller war damals gerade der Literaturnobelpreis zuerkannt worden.

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War es bloßer zeitlicher Zufall oder doch Mord? Diese Frage treibt seit mittlerweile fast genau einem halben Jahrhundert Verwandte, Bekannte und Anhänger Pablo Nerudas um. Der weltberühmte chilenische Dichter, der 1971 den Nobelpreis für Literatur erhielt, starb am 23. September 1973 – genau zwölf Tage nachdem die sozialistische Regierung seines Freundes Salvador Allende durch General Augusto Pinochet gestürzt worden war.

Im Gefolge der gewaltsamen Machtübernahme durch das Militär wurden mehr als 3.000 Gegnerinnen und Gegner des neuen Regimes ermordet, die meisten in den Wochen unmittelbar nach dem Putsch. Und Neruda gehörte als Kommunist, lebenslanger Kämpfer gegen den Faschismus und enger Mitstreiter Allendes zweifellos zu den wortmächtigsten Feinden Pinochets. Sein Begräbnis wurde zum "symbolischen Begräbnis der Freiheit", wie Isabel Allende in ihrem Weltbestseller "Das Geisterhaus" schrieb.

War der Dichter also auch von den Häschern Pinochets ermordet worden? Oder starb er doch an den Folgen des fortgeschrittenem Prostatakrebses, der ihn bereits jahrelang gesundheitlich stark beeinträchtigt hatte?

Wende durch neuen Bericht?

Fast fünf Jahrzehnte danach sorgt der Streit um die Todesursache nicht nur in Chile, sondern auch international weiterhin für großes Medieninteresse, wie sich vergangene Woche zeigte. Eine internationale Expertenkommission übergab nach zweimaliger Verschiebung dem Gericht einen weiteren Bericht, der Licht auf Nerudas Todesursache werfen soll.

Der konkrete Inhalt der Untersuchungen blieb allerdings unveröffentlicht. Kurz vor der Übergabe sorgte ein Bericht in der spanischen Zeitung "El País" allerdings für Aufsehen: Darin behauptete Rodolfo Reyes, Nerudas Neffe und Rechtsvertreter der Familie, dass nun Beweise vorlägen, dass sein Onkel mit dem Bakterium Clostridium botulinum vergiftet worden sei, das man in seinen Zähnen gefunden habe. Er dürfte den vollständigen Bericht allerdings nicht gelesen haben.

Gloria Ramirez, die Koordinatorin der neuen Expertenuntersuchung, äußerte sich nicht zu Rodolfo Reyes' Spekulationen über die Ergebnisse des Berichts, dessen Vorlage vor Gericht zweimal verschoben wurde.
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Wie stichhaltig ist die Evidenz für die Behauptung? Und was haben die Fachleute wirklich herausgefunden?

Später Verdacht und Exhumierung 2013

Ein konkreter Verdacht, dass der damals 69-Jährige einem Attentat zum Opfer gefallen sein könnte, wurde erst vergleichsweise spät öffentlich geäußert: Im Jahr 2011 behauptete sein ehemaliger Fahrer und persönlicher Assistent Manuel Araya in einem Interview, der politisch engagierte Dichter habe wenige Stunden vor seinem Tod eine ungeplante Injektion erhalten. Diese Aussage Arayas nahm die Kommunistische Partei Chiles zum Anlass, um eine Klage einzureichen.

Um den Fall zu klären, ordnete ein Richter die Exhumierung von Nerudas sterblichen Überresten an und beauftragte ein internationales Expertengremium mit deren Analyse. Die Exhumierung und die Analysen fanden 2013 statt; die sterblichen Überreste wurde auf etwa 2.000 chemische Stoffe wie etwa Arsen untersucht. Es fanden sich aber keinerlei Beweise für eine Vergiftung.

Neue Untersuchung 2015

Zwei Jahre später wurde eine neuerliche Untersuchung angeordnet. Laut Francisco Ugas, dem Leiter der Menschenrechtsabteilung der chilenischen Regierung, gab es einen begründeten Anfangsverdacht, dass der Dichter vergiftet worden sei. Die neue Untersuchung sollte nach anorganischen Substanzen oder Schwermetallen suchen sowie feststellen, ob es Zell- oder Eiweißschädigungen durch chemische Wirkstoffe gegeben habe. Das sei durch die erste Untersuchung nicht geklärt worden.

Im November 2015 gab das chilenische Innenministerium in einer Erklärung bekannt, dass es "offensichtlich möglich und sehr wahrscheinlich" war, dass Nerudas Tod durch Fremdeinwirkung verschuldet wurde. Dieses Gremium, das sich aus Forschern der kanadischen McMaster University, der Universität Kopenhagen in Dänemark und anderen Institutionen zusammensetzte, fand DNA-Fragmente von Clostridium botulinum in Nerudas Zähnen, einem Bakterium, das ein starkes Nervengift produziert, das für Lähmungen sorgt.

Das Problem für die Forensik, das schon damals eindeutige Aussagen relativierte: Clostridium botulinum kommt auch häufig im Boden vor, könnte also auch durch eine Verunreinigung post mortem in die sterblichen Überreste gekommen sein.

Fortsetzung der Analysen

Um das zu klären, setzten die beteiligten Forschenden ihre Untersuchung fort. Ihre Arbeit gipfelte in dem letzten Bericht, der am 15. Februar vorgelegt wurde, aber unveröffentlicht blieb. Bekannt sind nur die Aussagen von Nerudas Neffe Rodolfo Reyes, die für internationales Aufsehen sorgten.

Doch sind diese Aussagen durch den Bericht gedeckt? Das Wissenschaftsmagazin "Nature" hat mit einigen der beteiligten Forscherinnen und Forscher über die komplexen Analysen gesprochen. Laut diesen Recherchen, die am Mittwoch veröffentlicht wurden, ist es dem Gremium gelungen, ein Drittel der aus Nerudas Zähnen extrahierten bakteriellen DNA-Sequenz zusammenzusetzen. In dieser Sequenz identifizierten die Forscher ein Gen, das für die Produktion des Botulinumtoxins verantwortlich ist, obwohl sie keinen Nachweis für das Toxin selbst fanden.

Außerdem wurde mittels sogenannter Shotgun-Metagenom-Sequenzierung der Abbau der DNA von C. botulinum mit dem Abbau von Nerudas eigener DNA und der DNA anderer Bakterien in seinem Mund verglichen. Dabei stellten sie tatsächlich fest, dass die Abbaumuster ähnlich waren. Das wiederum deutet darauf hin, dass sich C. botulinum zum Zeitpunkt seines Todes in Nerudas Körper befunden haben könnte.

Eindeutig ist aber anders

Dennoch warnten die beteiligten Wissenschafter gegenüber "Nature" davor, aus ihren bisherigen Untersuchungen irgendwelche eindeutigen Schlussfolgerungen zu ziehen – also konkret: dass Neruda durch eine Giftspritze umkam. "Eine Injektion ist nicht die einzige mögliche Erklärung", sagt Marie-Louise Kampmann, Gerichtsmedizinerin an der Universität Kopenhagen, die dem Gremium angehörte. Eine Alternative wäre zum Beispiel der Verzehr der Bakterien in vergifteten Lebensmitteln, denn C. botulinum kann auch in unsachgemäß konservierten Lebensmitteln vorkommen.

Kampmann räumt auch ein, dass ein Vergleich der DNA-Abbaugrade nicht ausschließen kann, dass das Bakterium nach Nerudas Tod in den Körper gelangt sei. Eine DNA-Probe, die nur zehn Jahre lang in einer warmen, feuchten Umgebung aufbewahrt wurde, könnte das gleiche Ausmaß an Abbau aufweisen wie eine, die 50 Jahre lang in einer kalten, dunklen Umgebung aufbewahrt wurde. Um diese Frage zu klären, hoffen die beteiligten Wissenschafterinnen und Wissenschafter abermals auf das Gericht und konkret: dass es weitere Forschungen beauftragt.

Auch unter den Nachfahren Nerudas bleiben dessen Tod und die Interpretation des Berichts umstritten: Nerudas Großneffe Bernardo Reyes wies die Schlussfolgerung zurück, dass die Untersuchung einen Mord an dem Schriftsteller nachgewiesen habe. Außerdem seien 1973 unter der Militärjunta Morde mit "chemischen Methoden" noch nicht üblich gewesen. (Klaus Taschwer, 23.2.2023)