Slava Banik ist der Kopf hinter den digitalen E-Government-Services der Ukraine.

Fotos: Anton Filonenko, Daniyar Sarsenov

In der Ukraine dauert es eine Minute und 34 Sekunden, bis man ein Bankkonto eröffnet hat, dafür muss man nicht einmal das Haus verlassen. Wer einen neuen Führerschein braucht, muss dafür nicht mehr aufs Amt. Seit 2014 wird die Verwaltung systematisch digitalisiert. Doch wie schafft es ein Land im Krieg, diese Systeme aufrechtzuerhalten und sogar noch auszubauen? Warum hinken Länder wie Österreich hinterher? Bei Slava Banik, dem Kopf hinter der E-Government-App DIIA und dem digitalen Unterbau "Trembita", sucht DER STANDARD nach Antworten.

STANDARD: Sie haben alle Behörden der Ukraine im Trembita-System vereint. Wie ist Ihnen das gelungen?

Banik: Die Basisarbeit läuft seit 2014. 2019 wurde das Ministerium für digitale Transformation gegründet. Wir haben zwar unsere Mitarbeiter, aber wir sind kein riesiges Ministerium. Aber wir haben Vertreter in allen anderen Ministerien, die Chief Digitalization Officers. Wir haben die Strategie, die von diesen Beamten umgesetzt wird. Wir gehen nicht in andere Ministerien und fangen dort an, neue Systeme zu entwickeln.

STANDARD: In Österreich ist es oft genau andersherum, da muss das Staatssekretariat für Digitalisierung schon fast betteln, damit ein anderes Ministerium neue Standards umsetzt. Gab es diese Probleme nicht auch in der Ukraine?

Banik: Natürlich hatten wir auch diese Probleme zu Beginn des Projekts. Jedes Mal, wenn wir zu einer staatlichen Stelle gegangen sind und erklärt haben, was wir vorhaben, haben wir immer nur gehört, dass wir nicht im gleichen Team spielen. Nachdem wir DIIA gestartet haben, gab es den digitalen Führerschein als erste Anwendung. Damit erreichten wir in ein paar Tagen eine Million User. Da war es auf einmal anders, ab da wollten alle Behörden plötzlich alles digitalisieren.

STANDARD: Muss also der Druck von den Menschen kommen, damit etwas weitergeht?

Banik: (lacht) In der Ukraine wollten alle Behörden plötzlich etwas von der Liebe abbekommen. Da haben wir dann oft gemerkt, dass die Verwaltung veraltet ist und nicht von heute auf morgen digitalisiert werden kann. Das war zum Beispiel im Sozialministerium so. Dort wurden aber recht rasch die Prozesse neu aufgebaut, das Papier wurde verbannt, und erst dann konnten wir uns Gedanken über digitale Services machen. Wichtig ist, dass alle im Hintergrund ihre Hausaufgaben machen. Digitalisierung als Selbstzweck wird nicht funktionieren. Die Digitalisierung muss den Menschen dienen, nicht umgekehrt. Wenn das funktioniert, kann man auch weitere Services starten.

STANDARD: In Österreich wäre die Skepsis gegenüber dem Staat im Smartphone vermutlich recht groß. Man traut dem Staat hierzulande einfach nicht zu, dass er ein derartiges System sicher hinbekommt. Außerdem gibt es einen starken Hang zum Analogen. Sind die Ukrainer so viel geschickter im Umgang mit digitaler Technologie, oder gab es doch auch Bedenken?

Banik: Ja, natürlich hatten wir auch genau diese Probleme. Das ist aber eine Frage der Digitalkompetenz. Die Leute vertrauen nichts, das sie nicht verstehen. Beim digitalen Führerschein war das einfach zu erklären: Jeder hat schon mal den analogen Führerschein daheim vergessen und wurde ausgerechnet dann von der Polizei aufgehalten. Die Services müssen einfach einen Mehrwert bringen, und wenn die Leute einmal den Nutzen erkannt haben, dann steigen sie auch nicht mehr aus. Auch digitale Sozialleistungen waren ein Türöffner, wie etwa während der Covid-Pandemie.

STANDARD: Wie gehen Sie mit der Sicherheit um? Wo liegen Ihre Daten?

Banik: Die Daten liegen nicht bei uns. Trembita ist wie eine Eingangshalle. Werden Daten von einer Behörde angefordert, machen wir die Tür dorthin auf. Es ist ein System zur Vernetzung, keine Datenbank. Wir selbst haben keine Daten und können auch gar nicht direkt zugreifen.

STANDARD: Das klingt aber dennoch so, als hätten einzelne Beamte viel Macht und können auf eine Menge Daten der Ukrainerinnen und Ukrainer zugreifen. Wie verhindern Sie, dass diese missbraucht wird?

Banik: Das nächste Update wird eine Funktion beinhalten, die eine Push-Benachrichtigung an die Nutzer schickt, sobald ein Beamter auf die Daten zugreift. Sobald jemand etwa nachsieht, ob mir ein Grundstück gehört, werde ich darüber informiert. Jeder soll wissen, wer auf die Daten zugreift, und auch demjenigen dann die nötigen Fragen stellen können. Ein weiteres wichtiges Feature ist der Changelog. Ein Risiko ist, dass jemand Daten verändert. In Zukunft sollen alle Datenbanken alle Veränderungen protokollieren. Jede Veränderung eines Datensatzes muss von einem Beamten autorisiert und digital signiert werden. Damit wird es eine genaue Bearbeitungshistorie geben, wer wann was getan hat.

STANDARD: Was passiert, wenn jemand ungerechtfertigterweise auf die Daten zugreift?

Banik: Da sind Geldbußen oder sogar Gefängnisstrafen angedacht. Aber daran arbeiten wir noch.

STANDARD: Inwiefern war die Korruption ein Problem bei der digitalen Umstellung?

Banik: Ja, das ist etwas, das Sie in Österreich hoffentlich nicht haben. Im alten System gab es viele Möglichkeiten, korrupt zu sein. Mit Trembita ist aber alles transparent. Wir haben korrupten Menschen die Möglichkeit genommen, Geld zu verdienen. Und was passiert, wenn man jemandem den Geldhahn zudreht? Sie greifen dich an. Ganze Kampagnen wurden gegen das Ministerium gefahren, wonach es Datenlecks in DIIA gebe. Das stimmt natürlich nicht, wir haben keine Daten in DIIA, also können wir auch nichts leaken. Das zeigt aber auch, dass du ein Problem hast, wenn die Leute nicht verstehen, wie deine digitale Verwaltung funktioniert.

STANDARD: Wie erklären Sie den Ukrainerinnen und Ukrainern, wie digitale Verwaltung funktioniert?

Banik: Wir haben 18,8 Millionen User, das ist mehr als die Hälfte der Erwachsenen der Ukraine. Dennoch müssen wir jeden Tag noch immer erklären, warum es sicherer und praktischer ist, einen digitalen Ausweis zu benutzen. Haben Sie digitale Ausweise in Österreich?

STANDARD: Bislang nur den digitalen Führerschein, der Ende letzten Jahres eingeführt wurde, mehr gibt es aktuell leider noch nicht.

Banik: Vielleicht ist das noch eine Erkenntnis, weil wir das auch erst lernen mussten: Die Leute werden von sich aus keine Services nachfragen, weil sie natürlich keine Erfahrung im Umgang damit haben. Ich bringe gerne das Beispiel von Taxis: Vor zehn Jahren hast du in der Taxizentrale angerufen und die Adresse genannt, von wo du wegfahren möchtest. Ein Mitarbeiter des Services hat den Fahrer informiert, und du wurdest informiert, dass ein Taxi unterwegs ist. Das war ein wundervolles Service. Hätte man uns da gefragt, ob man stattdessen lieber eine mobile App hätte, hätten wir alle gesagt: Nein, niemals! Warum auch? Es hat ja schließlich toll funktioniert. Aber wer einmal Uber benutzt hat, der will nicht mehr das Taxi per Telefonanruf bestellen. Du kannst die Leute nicht fragen, ob sie eine Anwendung wollen, bevor sie sie überhaupt benutzt haben.

STANDARD: Die jungen Leute tun sich da sicher leichter, weil es für sie natürlich ist, ein Taxi per App zu bestellen. Die Älteren werden da nicht so mitziehen.

Banik: Ja, das hat es bei uns vor drei Jahren auch geheißen. Oder dass nur die Early Adopters unsere App ausprobieren. Damals hieß es: Ja, die Digitalisierung ist halt eine Option, aber offline ist viel nachhaltiger, und das wird es in alle Ewigkeit geben. Das hat sich geändert. Heute fragen die Leute: Wann gibt es dieses und jenes endlich online? Die Leute fragen nicht, ob es online sein wird, sondern wann. Manchmal werden wir sogar gefragt, ob es nach dem Krieg noch Offline-Büros geben wird.

STANDARD: In Österreich wären die Menschen bei solchen Ideen sehr skeptisch, vielleicht auch zu Recht?

Banik: Das war in der Ukraine vor einigen Jahren noch genau so. Die Menschen waren es gewöhnt, dass sie am Amt eine Nummer ziehen und stundenlang in der Schlange stehen, nur weil sie ihren Ausweis verloren haben – weil es halt immer schon so war. Heute ist es völlig optional, ob du dir überhaupt noch einen analogen Führerschein holen willst. Heute ist es nicht mehr nötig, dass ein Beamter deine Daten überhaupt ansieht, nur weil dein Personalausweis abgelaufen ist.

STANDARD: Was war der Service, der die Leute wirklich dazu brachte, die digitale Verwaltung zu nutzen?

Banik: Das waren die Dokumente. Wir haben 14 Dokumente in digitaler Form: Pass, Personalausweis, Versicherungspolizzen, Sozialversicherungskarten, Studentenausweise, Geburtsurkunden bis hin zum Meldezettel. Wenn du mit der Polizei zu tun hast oder wenn du ein Konto eröffnest, dann musst du irgendwelche Dokumente vorlegen. Digitale Dokumente haben in der Ukraine vollständige Gültigkeit. Wenn du beispielsweise an einem Bankschalter stehst und jemand akzeptiert deine digitale ID nicht, dann kannst du die Polizei rufen. Wir müssen eben alles abdecken, was die Leute auch benutzen wollen.

STANDARD: Wie haben Unternehmen wie Banken reagiert, dass sie sich in eine staatlich verordnete Verwaltung einklinken müssen?

Banik: Da gab es zwei Gruppen. In der Ukraine gibt es hoch digitalisierte Unternehmen, für die es sogar einfacher wurde, Geschäfte abzuwickeln, weil sie vorbereitet waren. Auf der anderen Seite gibt es natürlich altmodische Firmen, aber mit dem Gesetz zur digitalen ID hatten sie einen Monat Zeit, sich anzupassen. Natürlich gab es Widerstand, aber letztlich ist es eben das Gesetz. Heute muss man zur Eröffnung eines Bankkontos nicht mehr zur Bank gehen, das läuft über die App. In einer Minute und 34 Sekunden kannst du ein Bankkonto erstellen. Das macht es natürlich auch für die Bank attraktiv, weil es die Menschen leichter haben, zur Kundschaft zu werden. Gleichzeitig sparen sie sich Zeit, weil kein Bankangestellter physische Kopien von Dokumenten anfertigen muss. Wenn ein Baby geboren wird, dauert die Bürokratie 30 Minuten, das ist aber nur deshalb so lange, weil wir da zehn Services wie Melderegister, Sozialhilfe oder die Vergabe von Steuernummern (ähnlich der österreichischen SV-Nummer, Anm.) in einem haben. Sie füllen ein digitales Formular aus, das war’s. In einigen Sekunden können Sie ein Gewerbe anmelden. Früher musste das ein Beamter des Justizministeriums bearbeiten.

Banik: "Wenn du das Neue an das Alte anpasst, ist das, als würdest du Diesel in einen Tesla tanken."
Foto: Anton Filonenko, Daniyar Sarsenov

STANDARD: Wie stark mussten Sie die Verwaltung umkrempeln, was mussten Sie von Grund auf neu aufbauen?

Banik: Im Krieg heißt es jetzt, wir sind tapfer genug, um uns Russland entgegenzustellen. Vorher haben wir gesagt, dass wir tapfer genug sind, alle alten Prozesse zu hinterfragen. Wenn du etwas Neues erschaffen willst, kannst du nicht einfach etwas Neues auf das alte System hin anpassen. Ein Beispiel: Überall auf der Welt werden Formulare als PDF-Datei herumgeschickt, die man digital signiert. Wir haben auch lange darüber diskutiert, wie wir das mit DIIA machen, und etwa darüber nachgedacht, ob du mit einem Screenshot deines Ausweises unterschreiben kannst oder so etwas. Irgendwann wurde uns dann klar: Wir tüfteln gerade daran, das Digitale an das Alte anzupassen. Das ist, wie wenn man versucht, Diesel in einen Tesla zu danken.

STANDARD: Sie haben also das PDF-Formular umgebracht?

Banik: Wir machen das jetzt mit Push-Benachrichtigungen. Sobald jemand deine digitale Unterschrift anfordert, drückst du einfach auf "Bestätigen" auf deinem Smartphone. Im Hintergrund wird der Datensatz deines Reisepasses neu generiert. Dieser Datensatz ist dann auch nur für diesen Einsatzzweck gültig. (Ein ähnliches System kommt auch in Österreich beim digitalen Führerschein zum Einsatz, Anm. Mehr dazu hier)

STANDARD: Wie bestätigen Nutzerinnen und Nutzer ihre Identität? Reicht da herkömmliche Face-ID oder der Fingerabdrucksensor am Smartphone?

Banik: Wir haben einige Extraschritte eingeführt. So muss man etwa in die Kamera lächeln oder mit den Augen blinzeln, damit das System eine Bewegung erkennt. Diese biometrischen Daten werden dann mit Fotos des Users von seinem Personalausweis oder seinem Führerschein abgeglichen.

STANDARD: Wie schützen Sie die Daten vor den russischen Angreifern?

Banik: Wenn du einer Invasion ausgesetzt bist, dann versucht der Angreifer nicht, wie ein Hacker deine Daten zu stehlen und sie zu verkaufen. Er versucht sie zu zerstören. Bislang konnten wir alle Angriffe der Russen abwehren. Sie können vielleicht die eine oder andere Regierungswebsite offline nehmen, aber sie haben es nie geschafft, in unsere Systeme einzudringen. Das ist auch enorm wichtig – gelingt es einem Angreifer beispielsweise, die Datenbank hinter den Reisepässen und Ausweisen zu zerstören, dann funktioniert bald gar nichts mehr, egal welches Land betroffen ist.

STANDARD: Wie schaffen Sie es, die Russen draußen zu halten?

Banik: Wir sind permanenten Attacken ausgesetzt. Wir haben ein schnelles Eingreifteam, und seit dem russischen Angriff sind wir alle Soldaten. Zu Beginn der russischen Invasion haben wir ein Kopfgeld ausgesetzt: Wer es schafft, in unser System einzudringen, bekommt eine Belohnung. Wir haben es sogar russische Überläufer ausprobieren lassen. Keiner kam rein.

STANDARD: Was ist Ihr Tipp für Länder, die sich mit dem Aufbau digitaler Verwaltung schwertun, wie Österreich?

Banik: Warte nicht, bis dich die Leute nach digitalen Services fragen. Du musst die Lösung schon vorher anbieten, ansonsten hast du etwas falsch gemacht.

Slava Banik ist der Direktor für die Entwicklung von E-Services im Ministerium für digitale Transformation der Ukraine.