Die russische Wirtschaft leidet unter den Sanktionen, aber nicht so sehr wie vom Westen erhofft, sagt Vasily Astrov, Russland-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, im Gastkommentar.

Der russische Präsident Wladimir Putin kann den Krieg in der Ukraine trotz Sanktionen finanzieren. Ein höheres Budgetdefizit ist für den Kreml verkraftbar.
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Der französische Finanzminister Bruno Le Maire ließ es nicht an Deutlichkeit fehlen: ein Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, die russische Volkswirtschaft dermaßen zu schwächen, dass Wladimir Putin seine Kriegshandlungen reduzieren oder einstellen muss. So beschrieb er kurz nach dem völkerrechtswidrigen und brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem Jahr die westliche Intention hinter der Verhängung massiver Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Moskau. Zunächst sah es tatsächlich danach aus, dass die russische Wirtschaft zwar nicht kollabieren, aber doch in eine tiefe Rezession stürzen würde. Wo aber stehen wir heute, ein Jahr nach Kriegsbeginn und neun EU-Sanktionspakete später?

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Weder von einem ökonomischen Zusammenbruch Russlands noch von einem tiefen Wirtschaftseinbruch kann bisher die Rede sein. Die stark gestiegenen Rüstungsausgaben, die Erfolge bei der Umorientierung des Außenhandels Richtung Asien und die relative Stabilität des Rubels haben den Einbruch der Wirtschaftsleistung im Vorjahr auf minus 2,1 Prozent begrenzt. Damit verlief die sanktionsbedingte Rezession viel milder als zunächst angenommen.

"Der Westen ist mit seinem Wirtschaftskrieg gegen Russland gemessen an seinen Zielen vorerst gescheitert."

Die Realeinkommen der Bevölkerung gingen lediglich um ein Prozent zurück. Die Arbeitslosigkeit sank gegen Jahresende auf einen neuen Tiefststand von 3,7 Prozent, auch wenn sie zum Teil versteckte Formen wie Teilzeit oder unbezahlte Urlaube annimmt. Die niedrige Erwerbslosenquote erklärt sich nicht zuletzt aus dem Arbeitskräftemangel durch die Mobilisierung von Hunderttausenden für den Kriegsdienst sowie aus der massiven Auswanderung. Allein vergangenes Jahr verließen schätzungsweise bis zu eineinhalb Millionen Menschen das Land.

Entgegen den Hoffnungen vieler westlicher Politikerinnen und Politiker ist die makroökonomische Situation alles andere als desaströs. Zwar verharrt Russland auch 2023 in einer Rezession. Diese dürfte mit einem BIP-Minus von 1,5 Prozent allerdings ebenfalls viel geringer ausfallen, als noch vor Kurzem prognostiziert. Der Internationale Währungsfonds rechnet für das heurige Jahr sogar mit einem leichten Wachstum von 0,3 Prozent. Auch wenn diese Prognose zu optimistisch erscheint, ist der Westen mit seinem Wirtschaftskrieg gegen Russland gemessen an seinen Zielen vorerst gescheitert.

Enormer Preisabschlag

Das ändert aber nichts daran, dass die russische Wirtschaft unter den Sanktionen leidet. Vor allem das EU-Embargo auf Erdöl und Erdölprodukte sowie der Preisdeckel auf russisches Öl haben dazu geführt, dass Russland sein Erdöl nun mit einem enormen Preisabschlag verkaufen muss. Im Jänner 2023 stürzte der Preis der wichtigsten russischen Rohölsorte Urals auf 49 US-Dollar je Barrel ab. Gegenüber der Nordseesorte Brent war das ein Abschlag von 40 Prozent. Um den Preis zu stützen, beschloss der Kreml eine Kürzung der russischen Rohölförderung um fünf Prozent. Das alles schmälert die Steuereinnahmen erheblich, schließlich kommen 40 Prozent aus dem Energiesektor.

Die im Dezember des Vorjahres in Kraft gesetzten Ölsanktionen sind sicherlich die effizientesten, die bisher verhängt wurden. Dazu kommen die Ausfälle aus den stark gekürzten Erdgasverkäufen in die EU, die Russland selbst verschuldet hat. Angesichts fehlender Pipelines aus Westsibirien Richtung Asien wird es Jahre dauern, bis es sein Gas in großem Stil nach China oder Indien liefern kann.

"Defizite von drei bis vier Prozent des BIP sind für den Kreml verkraftbar."

Dennoch werden diese monetären Einschnitte Putins Fähigkeit zur Finanzierung des Krieges vorerst kaum beeinflussen, da die Lücke zu einem guten Teil über ein höheres Budgetdefizit finanziert wird. Defizite von drei bis vier Prozent des BIP sind für den Kreml verkraftbar, da Russland aufgrund seiner niedrigen öffentlichen Verschuldung großen Spielraum hat und sich leicht bei inländischen Banken Geld leihen kann. Außerdem verfügt die Regierung über den staatlichen Wohlfahrtsfonds, der mit etwa 150 Milliarden US-Dollar gut gefüllt ist, was rund sieben Prozent der russischen Wirtschaftsleistung entspricht.

Wie an dieser Stelle bereits betont, wirken die westlichen Sanktionen vor allem längerfristig und dürften die Entwicklungsaussichten Russlands auf Jahre beeinträchtigen. Insbesondere das westliche Embargo auf Hightech-Produkte wie Mikrochips oder Maschinen führte bereits zu drastischen Produktionseinbrüchen in mehreren Industriebranchen, etwa in der Autoindustrie, wobei hier der Rückzug der meisten ausländischen Autofirmen auch eine wichtige Rolle spielte. Gesamtwirtschaftlich gesehen fielen diese bisher aber nicht so stark ins Gewicht.

Keine Modernisierung

Die Auswirkungen des Hightech-Embargos auf die Rüstungsindustrie waren bisher ebenfalls nicht so groß wie zunächst angenommen, könnten sich im Laufe der Zeit aber intensivieren. Hohe Lagerbestände an westlichen Komponenten, die Beschaffung sanktionierter Güter über Umwege im Ausland sowie die Priorisierung der Kriegswirtschaft konnten die Produktion bisher stabilisieren.

Der weitgehende Ausschluss Russlands von westlicher Technologie wird seine volle Wirkung erst über Jahre entfalten. Die angestrebte Modernisierung des Landes dürfte damit zum Erliegen kommen. Es sieht momentan überhaupt nicht danach aus, dass Moskau die fehlende Hochtechnologie durch Einfuhren aus China, die Umgehung der Sanktionen über Drittstaaten und Importsubstitution auch nur annähernd wird ersetzen können.

Am Kriegskurs des Kreml konnte all das aber bisher wenig ändern. Einerseits, weil Putin die immer höheren ökonomischen Kosten bewusst in Kauf nimmt. Und andererseits, weil seine Fähigkeit, die riesige Militäroperation zu finanzieren, erst in ein paar Jahren merklich leiden wird. Bis dahin dürfte der Ukraine-Krieg aber längst entschieden sein. (Vasily Astrov, 24.2.2023)