Zehntausende Ukrainerinnen strömten nach Österreich und benötigten eine Unterkunft – und wir hatten ein Zimmer frei, sogar mit eigenem Bad. Schon wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine waren meine Frau und ich uns sicher: Wir nehmen jemanden auf, am besten eine Mutter mit Kind. Wir registrierten uns auf allen offiziellen Plattformen, doch es gab wochenlang keine Reaktion. Erst über eine private Whatsapp-Gruppe, auf die wir zufällig gestoßen waren, kam schließlich die Nachricht: Eine Mutter mit 16-jähriger Tochter ist auf dem Weg nach Wien und sucht eine Bleibe. Dabei war ein Foto von Lena und Karina, das es uns leicht machte, Ja zu sagen. Da war es bereits Mitte April.

Kurz nach Kriegsbeginn verließen Karina und Lena Karashchuk ihr Haus bei Kiew und haben in Wien-Mariahilf eine neue Bleibe gefunden.
Foto: Heribert Corn

Wir wurden nicht enttäuscht. Seit nunmehr zehn Monaten wohnen die beiden in unserer Wohnung beim Wiener Naschmarkt – eine Wohngemeinschaft fast wie bei Studierenden. Wir lernen ukrainische Speisen schätzen – viel Fleisch, Kartoffeln und Buchweizen. Wir feiern gemeinsam Geburtstage und Feiertage, zittern gemeinsam, wenn morgens neue russische Raketenangriffe gemeldet wurden, und trauern, wenn wieder unschuldige Menschen sterben.

Auch wenn Lena und Karina uns ihr Leid nur wenig spüren lassen, dringt der Krieg, der sonst oft weit entfernt wirkt, doch in unsere Küche ein. Wir gingen gemeinsam in die Oper, fuhren fürs Wochenende in die Steiermark und gingen wandern in der Wachau. Eine nach dem Auszug der Kinder zu groß gewordene Wohnung mit zwei wunderbaren Menschen zu teilen ist ein sehr kleines Opfer und ein gewaltiger Gewinn.

Von Browary über Polen nach Wien

Die Heimatgemeinde von Lena und Karina ist Browary, eine 100.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Kiew, an die in den ersten Kriegswochen die russischen Truppen ziemlich nah herangerückt sind. Ihr Haus hat keinen bombensicheren Keller, und sie besitzen kein Auto. Sie schlossen sich einer Freundin an, die mit ihren Kindern nach Polen flüchtete, drei Tage dauerte die Reise. Lenas 20-jähriger Sohn Tima blieb zurück, muss aber wegen eines Augenleidens nicht einrücken; er kann studieren und arbeiten. Auch Lenas Eltern und Schwester sind geblieben, ebenso Karinas Vater.

Videorückblick: Ein Jahr Krieg gegen die Ukraine
DER STANDARD|AFP

Nach ein paar Wochen zog die Freundin nach München weiter, wo kein Platz für ihre Begleiterinnen war. Da erinnerte sich Lena mit Sehnsucht an einen früheren Besuch in Wien. So trat sie am Ostermontag 2022 in unser Leben. Die ersten Tage waren von Amtswegen und der Suche nach geförderten Deutschkursen geprägt, was sich als mühsamer erwies, als es die österreichische Politik gerne verkauft. Dafür bekam Karina, die schon in ihrer Heimat gerne und sehr gut gesungen hatte, auf meine Anfrage hin rasch Gesangsstunden mit einer ausgezeichneten Lehrerin in der Johann-Sebastian-Bach-Musikschule.

Sprachkurse und Schule

Unsere gemeinsame Sprache ist bis heute Englisch, wobei wir versuchen, immer mehr Deutsch zu sprechen. Karina, die heuer im ukrainischen Schulsystem maturiert, fällt das Sprachenlernen naturgemäß leichter als ihrer 43-jährigen Mutter. Anfangs nahm sie vor allem online am Unterricht an ihrer alten Schule teil, eine Einschulung in einer heimischen Schule erwies sich in ihrem Alter als wenig sinnvoll. Dann bekam sie einen Platz in der ukrainischen Schule, die für die obersten Schulstufen in der Raiffeisen Centrobank eingerichtet worden war – mit Unterstützung von Ex-Raiffeisenbank-Chef Herbert Stepic.

Die Schule, geführt von einer resoluten Ukrainerin, musste im Sommer ausziehen, aber fand in der alten Wirtschaftsuniversität einen neuen Platz. Nachdem etwas Schulgeld verlangt wurde, ging die Zahl der Schülerinnen und Schüler stark zurück.

In die Ukraine und wieder zurück

Ende August kehrten Lena und Karina nach Browary zurück, das Heimweh war stärker als die Angst vor Putins Bomben. Doch der Alltag erwies sich als schwieriger als befürchtet. Lena nahm ihre Arbeit als Buchhalterin in Kiew wieder auf, von wo sie sich hatte beurlauben lassen. Aber der Weg dorthin dauerte wegen des ständigen Luftalarms nun täglich zwei Stunden statt einer. Karinas Schule hat keinen Luftschutzraum. Der Unterricht wurde daher meist online geführt und dann durch Stromabschaltungen unterbrochen.

Eric, Katinka, Lena und Karina: Ausflug einer Wiener WG ins Ausseerland.
Foto: privat

Als im Oktober die gezielten russischen Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung einsetzten und ein eiskalter Winter bevorstand, reisten sie wieder nach Wien. "Wir halten euch das Zimmer frei", hatten wir ihnen vor ihrer Abreise versprochen.

Studieren für den Wiederaufbau

Sie brachten ukrainischen Honig und Schokolade aus der Produktion von Ex-Präsident Petro Poroschenko mit und fanden rasch in ihr Exilleben in Wien zurück. Karina geht täglich in die Schule, bereitet sich intensiv auf die ukrainische Matura vor, deren genauer Termin wegen des Kriegs noch nicht feststeht. Sie möchte danach Architektur in Österreich oder Tschechien studieren, um so zum Wiederaufbau ihrer Heimat beitragen zu können.

Lena schließt ihren dritten – und bisher besten – Deutschkurs ab und will sich bald auf Jobsuche begeben, am liebsten in einem Hotel. Vom AMS, wo sie seit Monaten gemeldet ist, kamen bisher keine sinnvollen Angebote. Sie leben bis dahin von der Grundversorgung von etwas über 300 Euro im Monat und 150 Euro Familienbeihilfe für Karina. Die Hoffnung, dass Ukraine-Vertriebene in die großzügigere Sozialhilfe aufgenommen werden, hat sich bisher nicht erfüllt.

Die Abende verbringen Lena und Karina meist im Videochat mit Sohn Tima, Verwandten und Freunden. An eine Heimkehr ist noch nicht zu denken, zu schwierig und gefährlich bleibt das Leben auch nahe der Hauptstadt. Sie träumen vom Frieden, aber erst, wenn die gesamte Ukraine befreit ist. Dann werden wir sie in Browary besuchen und uns von ukrainischer Gastfreundschaft verwöhnen lassen. Wir freuen uns schon jetzt darauf. (Eric Frey, 24.2.2023)