Peter Haimerl (62) leitet ein Architekturbüro in München und beschäftigt sich mit der Revitalisierung alter Häuser sowie mit der Neuerfindung der europäischen Stadt. Von 2018 bis 2023 war er Professor an der Kunstuni in Linz. Am Samstag, den 4. März, hält er einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On.

Fotos: Edward Beierle

Denkmalgeschütztes Bauernhaus in München-Riem

Fotos: Edward Beierle

Waidlerhaus in Blaibach

Fotos: Edward Beierle

Konzertsaal Haus Marteau in Lichtenberg

Fotos: Edward Beierle

STANDARD: Sie gelten als einer der radikalsten Architekten im deutschsprachigen Raum. Sehen Sie das selbst auch so?

Haimerl: Selbstbeurteilung ist eine schwierige Sache. Ich empfinde mich nicht als radikal, aber ich mache eine Architektur, die bis an die Grenzen geht, die sich bemüht, Raum nicht nur als etwas Funktionales zu sehen, sondern immer auch als einen Gedankenraum mit sinnlichen, theoretischen und philosophischen Facetten. Und ja, ich will diese Facetten ohne Kompromiss in die Realität umsetzen. Ich denke, dass dieses Bemühen, dass dieses Ziel von einigen Leuten als radikal wahrgenommen wird.

STANDARD: Sie haben eine Vorliebe für Schuppen, Stallungen und kaputte Bauernhäuser – aber auch für aus gestorbene und verwahrloste Orte in der Stadt. Woher kommt diese Faszination?

Haimerl: Es ist wie immer im Leben: Gebrochene Charaktere und Lebensgeschichten Gezeichneter sind interessanter als alles, was glatt und eindimensional ist. Mich interessieren Gebäude, die Narben und Nahtoderfahrungen haben, die schon was durchgemacht haben. Es steckt in ihnen eine unverfälschte Wahrheit, die man auch auf die Jetztzeit übertragen kann.

STANDARD: Was genau können wir von kaputten Häusern lernen?

Haimerl: Die Verletztheit und Verletzlichkeit. Die meisten glauben, es geht in der Architektur um die perfekte Lösung, um die tollste Form, um das schönste Detail. Das mag vielleicht auf Machtsymbole und Glanz-und-Glamour-Bauwerke zutreffen. Aber darum geht es nicht. Nein! Es geht darum, Räume zu schaffen, die Würde und Verständnis ausstrahlen und die eine Heimat bieten für die Verletzlichkeit in uns Menschen.

STANDARD: Haben Sie Vorbilder in der Architektur?

Haimerl: Nein. Meine Vorbilder sind Musikerinnen und Sänger. Wenn man das Publikum erreichen und berühren will, dann muss man selbst schon viel erlebt haben. Wenn man auf der Bühne steht, dann muss ein Lied glücklich machen, wenn es fröhlich ist, dann muss es wehtun, wenn es traurig ist.

STANDARD: In manchen Fällen stehen die Objekte, die Sie anpacken, unter Denkmalschutz. Ist das ein Hemmnis oder eine Chance?

Haimerl: Der Denkmalschutz ist eine Auszeichnung dafür, dass in einem Bauwerk etwas Besonderes innewohnt. Der Denkmalschutz ist nicht zuletzt ein Schutz für die Kraft, Würde, Geschichte, Identität und Energie eines Gebäudes. Mit denkmalgeschützten Gebäuden zu arbeiten, habe ich immer schon als große Ehre empfunden.

STANDARD: Wie nähern Sie sich so einer Bauaufgabe? Worauf ist dabei besonders zu achten?

Haimerl: Das Wichtigste ist: Man muss das Gebäude kennenlernen – von der Geschichte her, von seinem strukturellen Aufbau, aber auch von seinem Charakter. Man muss in die Materie so tief wie möglich eintauchen, man muss sie verstehen wie seine eigene Westentasche. Und natürlich braucht es für jede Sanierung oder Revitalisierung auch ein starkes, konsistentes Konzept. Nur an ein paar Ecken und Enden restaurieren und reparieren – das ist zu wenig. Das macht keinen Sinn, da kann man nur was kaputtmachen.

STANDARD: Ein häufiges Argument von Bauträgern und Investorinnen ist, Bauen in historischer Substanz sei teuer, unvorhersehbar und daher auch entsprechend unattraktiv.

Haimerl: Das ist falsch. Wenn es gelingt, mit geringem Eingriff einen Mehrwert für die Zukunft zu schaffen, dann ist eine Nachnutzung nicht nur kulturell von Bedeutung, sondern auch wirtschaftlich interessant.

STANDARD: Hat die heutige Bauwirtschaft ein größeres Sensorium für alte Bausubstanz als früher?

Haimerl: Leider nicht. Ich habe vor etwa 15 Jahren damit begonnen, mich mit Bauen im Bestand zu beschäftigten. Leider ist die Bereitschaft, mit dem Alten zu arbeiten, in der Branche seitdem eher geschwunden. Vieles ist bereits zerstört. Doch zum Glück gibt es Ausnahmen und ein paar wirklich engagierte Unternehmen und Investoren.

STANDARD: Ihre Projekte – ob nun Altbau oder Neubau – wirken an sich schon sehr archaisch und dramatisch. Dennoch werden die fertigen Häuser manchmal mit Kühen, Pferden und geheimnisvollen Frauen in Szene gesetzt. Wieso denn das?

Haimerl: Klassische Architekturfotografie langweilt mich zu Tode. Ich möchte über das klassische Bild hinausgehen. Bei der schwarzen Frau, die auf einigen Fotos zu sehen ist, handelt es sich um meine Frau Jutta Görlich, sie inszeniert die Räume gemeinsam mit dem Fotografen Edward Beierle. Dazu betreibt sie Geschichtsforschung zum Ort und zum Haus und verknüpft die Resultate mit Humor und Surrealismus. Es ist ein Spiel mit der Welt, es soll uns ein bissl was von der Ehrfurcht vor Architektur nehmen.

STANDARD: Und dann steht plötzlich eine Kuh in der Badewanne.

Haimerl: Ja, das kann passieren. Dann ist die Badewanne eben nicht nur eine Badewanne, sondern auch ein Behältnis mit Geschichte.

STANDARD: Sind Sie bei den Fotoshootings dabei?

Haimerl: Grundsätzlich niemals. Sobald ein Projekt von meiner Seite fertiggestellt ist, gehört es gedanklich nicht mehr mir, sondern den anderen.

STANDARD: Seit fast 30 Jahren beschäftigen Sie sich mit der sogenannten Zoomtown. Worum geht es da?

Haimerl: Das Konzept der Zoomtown habe ich schon in den 1990er-Jahren entwickelt. Bei Zoomtown geht es um Europa, denn wenn wir gegen die alten und neuen Supermächte wie USA, Russland, China und Indien kulturell überleben wollen, dann müssen wir damit anfangen, die europäischen Städte als großes Ganzes, als urbanes Kollektiv, als eine Art zusammenhän gende Supermetropole zu betrachten: London, Paris, Berlin, Warschau, Madrid, Rom, Wien, Belgrad, Athen, Istanbul und so weiter. Ich bezeichne dieses Netzwerk als UME, als United Metropoles of Europe. Und diese UME sind gemeinsam stark genug, die Fehler der Moderne zu beheben und endlich wieder schöne, lebenswerte, auch menschlich funktionierende Städte daraus zu machen.

STANDARD: Von welchen Fehlern sprechen wir hier im Speziellen?

Haimerl: Vor allem davon, dass die amerikanische Moderne mit ihren Autos und Autobahnen wie ein Fremdkörper auf den europäischen Kontinent appliziert wurde und diesen in den letzten 70, 80 Jahren massiv verändert und verschlechtert hat. Die europäische Stadt hat seitdem vieles von ihrem historischen Charakter eingebüßt und ist zu einem scheinbar effizienten Straßenraum für individuelle, motorisierte Mobilität geworden. Doch die Wahrheit ist: Das Auto braucht viel Platz – und diesen vielen Platz nimmt es uns Menschen weg. Das müssen wir dringend wieder reparieren.

STANDARD: Wie?

Haimerl: Mit dem Verdrängen von Autos, mit dem Rückbau von Straßen, mit dem Entrümpeln und Entsiegeln des öffentlichen Raums und mit der Implementierung eines neuen paneuropäischen öffentlichen Verkehrsnetzes – einer Art Europa-Schnellbahn, die aber nicht nur bis zum Hauptbahnhof fährt, sondern bis in die wichtigsten Subzentren und Quartiere hineindringt.

STANDARD: Das heißt, Sie können dann von Ihrem Büro in München direkt bis zum ORF-Radiokulturhaus fahren, um dort Ihren Vortrag zu halten?

Haimerl: Ja. Mit einer Art ICE, TGV, Shinkansen oder Transrapid-Magnetschwebebahn. Hinzu kommen natürlich auch andere Netzwerke wie etwa für Energie, Infrastruktur, materielle Ressourcen. So etwas wie das World Wide Web, nur hat mit Menschen und Gütern statt mit Daten.

STANDARD: Klingt gut. Aber wozu braucht es das?

Haimerl: Weil die europäische, historisch gewachsene Stadt ihre eigene Zukunft finden muss, wenn sie kulturell überleben will. Mit einer amerikanischen Moderne-Vision wird das nicht gelingen. Dass wir jetzt schon an die räumlichen und verkehrstechnischen Grenzen stoßen, zeigt sich in vielen europäischen Städten. Einige davon haben bereits begonnen, radikal umzudenken.

STANDARD: Fünf Jahre lang waren Sie Professor auf der Kunstuni Linz. Sie haben das Studio Zoomtown geleitet. Vor einem Monat haben Sie Ihre Professur beendet. Warum?

Haimerl: Ich habe gemerkt: Als Professor kann ich Zoomtown niemals in die Realität umsetzen. Das kann ich nur als Architekt. Dem will ich mich jetzt wieder verstärkt zuwenden.

STANDARD: Das diesjährige Architekturfestival Turn On beschäftigt sich mit den geopolitischen Verwerfungen des letzten Jahres. Welche Auswirkungen hat das auf die europäische Stadt?

Haimerl: Das ist eine große Frage! Die Corona-Pandemie, die Energiekrise, der Krieg in der Ukraine und die politische Willkür Russlands haben dazu geführt, dass wir heute in einem Angstraum leben. Und ein solcher Angstraum lässt keine Visionen zu. Lieber flüchtet man ins Lokale, ins Regionale, ins Ruhige, ins Nostalgische, ins intellektuell und emotional gerade noch Fass bare. Es scheint jetzt nicht die Zeit für große Sprünge zu sein – obwohl wir gedanklich, technologisch und wirtschaftlich dazu imstande wären.

STANDARD: Was wünschen Sie sich?

Haimerl: Dass wir die Kraft der multiplen Krisen dazu nutzen, massiv umzudenken. Ich wünsche mir ein Bekenntnis zu einem Europa ohne Partikularinteressendebatten, ich wünsche mir ein architekturpoli tisches und verkehrsräumliches Miteinander, und ich wünsche mir die sofortige Abschaffung von Kurzstreckenflügen. (Wojciech Czaja, 26.2.2023)