In der das Band-Tagesstruktur im 15. Wiener Gemeindebezirk verpacken die Nutzerinnen und Nutzer alles von der Schokoladetafel bis hin zu Medizinprodukten.

Foto: Christian Fischer

Tahsin Acur hat ein facettenreiches Arbeitsleben hinter sich. Der 38-Jährige arbeitete als Kellner in Restaurants, in einem Callcenter für Telemarketing und er machte eine Ausbildung zum Besen- und Bürstenzieher. Heute sitzt Acur in einem Arbeitsraum im 15. Wiener Bezirk. Neben ihm 1.300 Kalender, die darauf warten, in Kuverts gepackt zu werden. "Bei mir muss immer wer dabei stehen", sagt Acur. Denn: Er ist blind und kann bei dieser Arbeit nicht ertasten ob er die Kalender richtig herum kuvertiert.

Seit sieben Jahren arbeitet er aber nun beim Wiener Verein "Das Band", der Tagesstrukturen für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen anbietet. Acur schätzt die Arbeit hier, wie er sagt. Vollends zufrieden wirkt er aber nicht, denn so richtig wertgeschätzt fühlt er sich nicht.

Für seine 30 Stunden Arbeit pro Woche erhält er nämlich keinen Lohn, sondern nur ein Taschengeld zwischen 45 und 90 Euro pro Monat – je nach Anwesenheit. "Wir tun ja den ganzen Tag was, wir sind nicht faul. Und Taschengeld ist etwas für kleine Kinder."

Keine Pension, kein Lohn, kein Betriebsrat

Tahsin Acur ist nicht allein: Laut Fachleuten arbeiten in Österreich zwischen 25.000 und 30.000 als arbeitsunfähig eingestufte Menschen mit Behinderung in solchen Tagesstrukturen. Auch sie bekommen nur Taschengeld und sind wie Acur nicht pensions- oder krankenversichert, können auf keinen arbeitsrechtlichen Schutz zurückgreifen. Vonseiten des Fonds Soziales Wien (FSW), der in Wien als Fördergeber für Tagesstrukturen fungiert, gibt es die Vorgabe, dass Kundinnen und Kunden – so die offizielle Bezeichnung – pro Anwesenheitstag mindestens einen Euro erhalten. 2017 erhob der FSW, dass Kunden durchschnittlich 44 Euro pro Monat erhielten.

"Laut UN-Konvention für Behindertenrechte dürfte es uns in dieser Form gar nicht mehr geben", sagt die Sozialarbeiterin Melanie Wutte. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit Menschen mit Behinderung und leitet die Tagesstrukturen bei "Das Band". Wutte führt durch die Arbeitsräume, wo neben Kalendern auch Milka-Tafeln verpackt, Zigarettenfilter sortiert und Anti-Rauch-Sprays abgefüllt werden. "Die Leute können ohne Druck arbeiten".

Eine 40-Stunden-Woche ist für viele Menschen hier nicht denkbar, am herkömmlichen Arbeitsmarkt könnten viele nicht arbeiten. "Wenn Menschen überall Teilhabe hätten und der Arbeitsmarkt tatsächlich inklusiv wäre, würde es uns nicht mehr brauchen," sagt Sozialarbeiterin Wutte. Teilhabe versucht die Organisation, so gut es geht, umzusetzen: Mit sogenannten Gruppensprechern hat "Das Band" betriebsratsähnliche Strukturen geschaffen. "Man darf den Leuten zumuten, selbstverantwortlich zu leben", sagt die Sozialarbeiterin.

Acur ist einer dieser Sprecher. Er kritisiert nicht nur die Entlohnung: Die in Tagesstrukturen Beschäftigten erwerben nämlich mangels Versicherung auch keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld oder Pension und bleiben ein Leben lang abhängig von Sozialleistungen.

50 Fehltage pro Jahr

Und noch etwas ist hier anders als am herkömmlichen Arbeitsmarkt. Der FSW stellt für die 4.850 Kundinnen gewöhnlich 50 Fehltage zur Verfügung, danach gibt es keine Zahlungen an den Verein mehr. Dabei wird nicht zwischen Urlaub, Krankenstand oder Kuraufenthalten unterschieden. "Was ist wenn jemand eine OP hat?", fragt Acur, der als Gruppensprecher auch im Kund:innen-Rat des FSW sitzt. Bei aufwändiger Nachpflege und anschließendem Krankenstand könne es schon passieren, dass man über die 50 Tage kommt, sagt er.

Auf STANDARD-Nachfrage erklärt eine Sprecherin des FSW, dass für Kundinnen, die die Tagesstruktur regelmäßig weniger als fünf Tagen pro Woche besuchen, Einzelbewilligungen ausgestellt werden können. Ihr zufolge ist das Problem aber so oder so kein großes: "Die überwiegende Zahl der Kundinnen und Kunden kommt mit den 50 Fehltagen sehr gut aus."

Wenn der Arbeitsmarkt wirklich inklusiv wäre, bräuchte es Tagesstrukturen in der heutigen Zeit gar nicht mehr, sagt Sozialarbeiterin Melanie Wutte.
Foto: Christian Fischer

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen sind aber auch viele Menschen froh, hier zu sein, wie Jenny C. Sie erkämpfte ihren Platz in der Werkstatt in einem langwierigen Gerichtsprozess, in dem ihr Berufsunfähigkeitspension zugesprochen wurde. Ihre Arbeit als Zugbegleiterin musste sie nach einem Burnout an den Nagel hängen. In Folge wurden mehrere psychische Erkrankungen diagnostiziert. "Wenn man bemerkt, dass man ständig über sein Limit geht, muss man etwas ändern", sagt C.

Heute sitzt die Frau mit den schulterlangen glatten Haaren und Brille in einem großen, einer Schulklasse ähnlichen Raum. Neben ihrer Nähmaschine hat sie grauen Stoff und bunt foliertes Papier drapiert, aus den Stoffresten näht sie neue Taschen. Hier kann sie sich verwirklichen und etwas Neues entdecken, wie sie sagt – ohne über ihre Grenzen zu gehen.

Studie, Arbeitskreis, Arbeitsgruppe

Wie man die Grenzen von Menschen wie Jenny C. und Tahsin Acur respektieren und sie trotzdem in den Arbeitsmarkt integrieren kann, darüber wird in Österreich seit Jahrzehnten gestritten, sagt Oliver Koenig. Er ist Professor für Inklusionsmanagement an der Bertha von Suttner Privatuniversität in St. Pölten und hat vor gut zehn Jahren eine umfassende Befragung zu Tagesstrukturen durchgeführt.

Koenig sieht seitdem politisch wenig Bewegung: "Man macht eine Studie, einen Arbeitskreis, eine Arbeitsgruppe und fängt wieder von vorne an – das ist das österreichische Prinzip." Seine Kritik zielt nicht primär Vereine wie "Das Band" ab, die auch nur Taschengeld auszahlen. Vielmehr sind es die Förderstrukturen und Rahmenbedingungen.

Der Standpunkt vieler Selbst- und Interessensvertreterinnen ist klar: Die Situation wie sie jetzt ist, verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention. Auch die Volksanwaltschaft hat das bereits mehrfach festgestellt.

Jenny C. musste sich ihren Platz in der Tagesstruktur mühsam erkämpfen.
Foto: Christian Fischer

Lohn statt Taschengeld

Aaron Banovics von der Österreichischen Behindertenanwaltschaft sagt: "Wenn man diese Beschäftigungsverhältnisse als das sehen würde, was sie sind, nämlich Arbeitsverhältnisse, dann wären das mitunter Arbeitsbedingungen wie im 19. Jahrhundert." Gleichzeitig, so Banovics, seien manche schwer beeinträchtigte Personen in einer Werkstätte besser aufgehoben als am herkömmlichen Arbeitsmarkt, "aber auch ihnen stehen arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen, Urlaub, Krankenstand und Sozialversicherung zu."

DER STANDARD

Auch im aktuellen Regierungsprogramm wird der Punkt "Lohn statt Taschengeld" angeschnitten: Menschen mit Behinderung, die in Tagesstrukturen arbeiten, müssten zukünftig Lohn statt Taschengeld bekommen, damit wären sie auch sozialversicherungsrechtlich abgesichert. "Die notwendigen Schritte dahin sind gemeinsam mit den zuständigen Bundesländern zu erarbeiten", steht im Regierungsprogramm.

Auf Nachfrage beim FSW hält man fest, dass Tagesstrukturen sich in den vergangenen Jahren bereits weiterentwickelt hätten und weiter: "Es werden natürlich auch neue Modelle angedacht. Die grundlegenden gesetzlichen Regelungen sind jedoch Bundesgesetze." Im Sozialministerium wiederum verweist man zurück auf die Landesgesetze: "Bei tagesstrukturierenden Einrichtungen handelt es sich um Leistungen, die im ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Bundesländer im Rahmen der jeweiligen Landesgesetze zur Verfügung gestellt werden."

Im 1. Quartal 2023 sollen die Ergebnisse einer neuen Studie vorliegen – und darauf basierend Gespräche mit den zuständigen Bundesländern geführt werden. (Levin Wotke, 14.3.2023)