Ein Demonstrant in Serbien hält ein Plakat mit den ukrainischen Farben und dem Friedenssymbol in die Höhe. Friedensverhandlungen liegen aber noch in weiter Ferne.

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Russlands Invasion in der Ukraine geht in das zweite Jahr und kann deshalb schon längst nicht mehr als "rasche Spezialoperation", wie anfangs von Kreml-Chef Wladimir Putin bezeichnet, gesehen werden. Während Waffenstillstand und Diplomatie immer häufiger als trügerische Hoffnungen gesehen werden, betrachtet US-Historiker Stephen Kotkin auch umstrittene Möglichkeiten für einen "Sieg im Frieden".

Vor allem Pessimismus ist es, den der Princeton-Professor in einem halbstündigen Interview mit dem Magazin "New Yorker" zum Ausdruck bringt. Sanktionen würden bis heute nicht greifen, und ein Putsch im Palast des Kremls bleibe auch aus, lautete seine ernüchternde Analyse nach einem Jahr Ukrainekrieg. Er erkenne ein absehbares Ende des Krieges nur mit dem Verlust von ukrainischen Territorien und erläuterte somit eine konkretere Verhandlungsstrategie: "Wenn die Ukraine so viel von ihrem Territorium zurückerobert, wie sie physisch auf dem Schlachtfeld zurückerobern kann, möglicherweise nicht das gesamte Territorium, dafür aber den Beitritt zur Europäischen Union erhält", sagte er im Interview.

"Das muss die Definition eines Sieges sein: Die Ukraine wird in die Europäische Union aufgenommen", so Kotkin, der gleichzeitig den EU-Beitritt als einzige Sicherheitsgarantie für die Ukraine sieht, auch wenn dies bedeute, vorerst Gebiete an Russland abzutreten.

EU als Sicherheitsgarantie

Alles andere würde das Land am Dnepr nur weiter verwüsten und unbewohnbar machen. Verärgern könnten seine Worte viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit einem Jahr unermüdlich versuchen, die russischen Truppen zurückzuschlagen. Mit der Rückgewinnung der ukrainischen Regionen, Reparationszahlungen und der vollständigen Ermittlung von Kriegsverbrechen sei Wolodymyr Selenskyjs Vorstellung für das Ende des Krieges Wunschdenken.

Als Beispiel könne man die Lösung des Koreakriegs nehmen. Er wünsche sich eine Ukraine nach südkoreanischem Vorbild: "Wenn es eine Ukraine gäbe, wie groß auch immer ihr Anteil (der Staatsgebiete, Anm.) sein mag – achtzig Prozent, neunzig Prozent –, die als Mitglied der Europäischen Union gedeihen könnte und die irgendeine Art von Sicherheitsgarantie hätte, dann wäre das ein Sieg in diesem Krieg." Dafür wären, wie in Süd- und Nordkorea, eine entmilitarisierte Zone und ein Waffenstillstand nötig.

So wie der damalige US-Präsident Dwight Eisenhower in den 1950er-Jahren im Koreakrieg nach Südkorea reiste, tat es ihm US-Präsident Joe Biden mit seinem Besuch in Kiew gleich. Nach Ansicht des Historikers müsste eine Teilung des Landes nicht der Status quo sein, und er erinnert an die Ost-West-Teilung in Deutschland. Keiner habe damals mit dem Fall der Mauer gerechnet und noch weniger mit der raschen wirtschaftlichen Entwicklung des Ostens. Was Kotkin jedoch unerwähnt ließ, ist, dass eine solche Staatenaufteilung dennoch misslingen kann, wie es gegenwärtig in Israel und Palästina der Fall ist.

Zermürbungskrieg

Bis es dazu kommen sollte, befände sich die Ukraine jedoch in einem Zermürbungskrieg. Um diesen auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, müsste man den Gegner an der Lieferung und Produktion von Waffen hindern. Da es aber "keine Pläne gibt, den Krieg nach Russland zu tragen", befinde man sich in einer Pattsituation. Während der Westen die Ukraine mit immer schwereren Waffen beliefert, kauft Russland alte Waffen zurück und steigert die heimische Waffenproduktion. Um dem Dilemma zu entkommen, müsste eine Seite die Produktion der anderen übertreffen oder jene des Gegners müsste zerstört werden. Ein Angriff auf Moskau könnte laut Kotkin auch den Ausbruch eines Atomkrieges bedeuten. "Wir müssen uns über eine Eskalation Gedanken machen", erklärte Kotkin und bezog sich damit unmissverständlich auf den Einsatz von Atomwaffen, auch wenn die Anwendung "sehr dumm" sei, angesichts der erwarteten Antwort der USA.

Russland habe viele Möglichkeiten

Dennoch habe Russland viele andere Möglichkeiten, fatale Kriegsverbrechen zu begehen. Mögliche Szenarien können laut dem Historiker chemische oder biologische Waffen sein, die die Wasserversorgung in Kiew vergiften, und Spezialeinheiten könnten Europa enormen Schaden zufügen.

Kotkin gilt in den USA als einer der profundesten Kenner und Analysten Russlands. Derzeit arbeitet er an dem dritten Buch seiner dreibändigen Stalin-Biografie.

Ein Twitter-User und unbestätigter Politikanalyst.

Kritik an seinen neuesten Aussagen gibt es auf Twitter, wo ihm vorgeworfen wird, der moralischen Überlegenheit der USA anzuhängen. Unter anderem sagte er im Interview: "Demokratien führen keine Kriege, die absichtlich ein Fleischwolf sind, um ihre Leute einfach wegzuwerfen." Sehr wohl führte aber die USA Langzeitkriege in Vietnam, im Irak oder in Afghanistan, in denen viele Menschen ihr Leben verloren – so wirkt diese Aussage doch sehr scheinheilig. (Tabea Hahn, 24.2.2023)