In diesem Gastkommentar betrachten Ban Ki-moon und Juan Manuel Santos den Ukrainekrieg aus dem globalen Blickwinkel. Für den ehemaligen UN-Generalsekretär und den ehemaligen kolumbianischen Präsidenten ist Einigkeit im Ukrainekrieg auch Einigkeit über Frieden und Gerechtigkeit.

Eine Demonstration für Frieden und gegen den Krieg in der Ukraine im vergangenen November in Rom.
Foto: Reuters / Remo Casilli

Der illegale Einmarsch Russlands in die Ukraine – ein unverhohlener Versuch, einen unabhängigen, souveränen Staat zu zerstören, der innerhalb anerkannter Grenzen friedlich existiert – hat tiefgreifende Fragen über die Welt aufgeworfen, in der wir leben wollen, und darüber, wie die internationalen Beziehungen in Zukunft gestaltet werden sollten. Ein Jahr nach Kriegsbeginn ist die Suche nach Antworten noch dringlicher geworden, und alle Länder, ob sie dem Geschehen nah oder fern sind, müssen sich daran beteiligen.

Wenn wir es hier unterlassen, die Grundprinzipien der Souveränität und Unabhängigkeit zu verteidigen, besteht überall die Gefahr, dass wir autokratischen und aggressiven Regimen die Tür öffnen. Wenn wir in einer Welt leben wollen, in der Streitigkeiten zwischen Staaten am Verhandlungstisch und nicht mit Gewalt gelöst werden, müssen wir anerkennen, dass die Herausforderung des Krieges für die internationale Ordnung nach 1945 jedes Land betrifft, unabhängig vom politischen System oder von Bündnissen. Tatsächlich sind es die kleineren, weniger mächtigen Länder, die am meisten darunter leiden werden, wenn sich die Welt in konkurrierende Blöcke aufteilt, wie es während des Kalten Krieges der Fall war.

"Es ist nie zu früh, mit den Vorbereitungen für einen zukünftigen Dialog zu beginnen."

Als ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen und ehemaliger Präsident von Kolumbien betrachten wir den Krieg in der Ukraine nicht aus einer europäischen oder westlichen Perspektive. Als wir im August 2022 auf Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Kiew besuchten, taten wir dies als Mitglieder von The Elders, einem unabhängigen Zusammenschluss von ehemaligen Staatsmännern und Staatsfrauen, gegründet von Nelson Mandela, die sich gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit, Menschenrechte und eine nachhaltige Zukunft auf diesem Planeten einsetzen. Als Elders sind wir daran interessiert, Kriege zu beenden, nicht, sie zu gewinnen, und wir glauben, dass es nie zu früh ist, mit den Vorbereitungen für einen zukünftigen Dialog zu beginnen, um einen gerechten und dauerhaften Frieden im Einklang mit der UN-Charta zu erreichen.

Ban-Ki-moon (links) und Juan Manuel Santos (rechts) mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Foto: Imago / Ukrainische Präsidenschaftskanzlei / Sarsenov Daniiar

Globaler Blickwinkel

Wir betrachten diesen schrecklichen Krieg und seine Folgen aus einem globalen Blickwinkel. Wir verstehen, dass Länder, die aufgrund des Zusammenbruchs der Getreideversorgung und steigender Energiepreise unter Inflation und Armut leiden, angesichts einer Krise der Ernährungssicherung, die Millionen von bedürftigen Menschen bedroht, dringendere Probleme haben, als internationale Normen zu verteidigen oder Russland zur Rechenschaft zu ziehen.

"Für viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika klingt das westliche Gerede von der Wahrung der Werte heuchlerisch."

Ebenso verstehen wir, warum in einer Zeit, in der die geopolitische Machtdynamik weniger vorhersehbar geworden ist, einige Länder versuchen, ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen auf eine Weise abzuwägen, von der sie glauben, dass sie dazu beitragen wird, ihre zukünftige Sicherheit und ihren Wohlstand zu erhalten. Für viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika klingt das westliche Gerede von der Wahrung der Werte der "internationalen Gemeinschaft" heuchlerisch, wenn man bedenkt, dass die reichen Länder es versäumt haben, während der Covid-19-Pandemie Impfstoffe gerecht zu verteilen oder seit langem versprochene Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise bereitzustellen.

Keine Neutralität

Dennoch darf die Reaktion Asiens, Lateinamerikas und anderer Teile der Welt jenseits von Europa und Nordamerika nicht darin bestehen, sich vom Völkerrecht und den universellen Rechten zurückzuziehen oder gegenüber den Geschehnissen in der Ukraine neutral zu bleiben. Im Gegensatz zu dem, was manche behaupten, fördert Neutralität nicht die Aussicht auf Frieden; sie ermutigt den russischen Präsidenten Wladimir Putin lediglich, an seinem Ziel der Zerstörung der Ukraine festzuhalten und könnte ähnlichen Akten der Aggression und territorialen Expansion andernorts Vorschub leisten.

80 Jahre sind seit der Moskauer Deklaration vergangen, in der sich die Kriegsalliierten zu "einer allgemeinen internationalen Organisation, die auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller friedliebenden Staaten beruht", bekannten. Heute brauchen wir ein neuerliches Bekenntnis aller UN-Mitgliedsstaaten, ihren Teil dazu beizutragen, eine gerechte, auf Regeln basierende Ordnung wieder erstarken zu lassen, die alle schützt und die für alle funktioniert, auch für die schwächsten Länder.

Entscheidende Rolle

Um eine wieder erstarkte internationale Ordnung zu erreichen und aufrechtzuerhalten, sind gerechtere Systeme der globalen Governance und eine konsequentere Anwendung der Regeln erforderlich. Aufstrebenden Regionalmächten kommt in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle zu – und sie müssen wichtige Entscheidungen treffen. Der G20-Gipfel auf Bali im vergangenen Jahr hat gezeigt, wie Regionalmächte wie Indonesien dazu beitragen können, Brücken zu schlagen. Die Staats- und Regierungschefs bekräftigten die zentrale Bedeutung der UN-Charta und sorgten dafür, dass die Interessen des Globalen Südens in den Debatten und den abschließenden Erklärungen, etwa zur Ernährungs- und Energiesicherheit, berücksichtigt wurden.

Nun bieten die G20-Präsidentschaften Indiens, Brasiliens und Südafrikas die Gelegenheit, in den kommenden drei Jahren auf den Errungenschaften Indonesiens aufzubauen. Die aktuellen Konfliktlinien dürfen nicht dazu führen, dass das grundlegende Ziel, das wir alle teilen, in den Hintergrund gerät: eine Welt, in der Streitigkeiten friedlich und im Einklang mit dem Völkerrecht und den Menschenrechten beigelegt werden.

Notwendige Reformen

Die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit des multilateralen Systems erfordert mehr als ethische Führung und konsistentes moralisches Verhalten. Ehrgeizige Reformen der globalen Friedens- und Sicherheitsarchitektur sind ebenfalls notwendig – eine Aufgabe, die die heikle Frage der Reform des UN-Sicherheitsrats beinhalten muss.

Wir brauchen ein System, das gerechter, repräsentativer und in der Lage ist, bei schweren Verstößen gegen die UN-Charta rigoros durchzugreifen. Auf dem Weg zum Zukunftsgipfel, den UN-Generalsekretär António Guterres für das kommende Jahr geplant hat, sind wir es nicht nur dem ukrainischen Volk, sondern der ganzen Menschheit schuldig, Aggression abzulehnen und der Straffreiheit für Aggressoren ein Ende zu setzen. Auf diese Weise können wir das Versprechen der UN-Charta einlösen, die Menschheit vor der Geißel des Krieges zu bewahren. (Ban Ki-moon, Juan Manuel Santos, Übersetzung: Sandra Pontow, Copyright: Project Syndicate, 25.2.2022)