Wir stünden vor einer Zeitenwende, hieß es dieser Tage häufig in politischen Reden. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz bemühte diese Formulierung im Bundestag, als er Panzerlieferungen an die Ukraine rechtfertigte. In der Sondersitzung des österreichischen Nationalrats zum ersten Jahrestag des Ukrainekriegs war die Zeitenwende allgegenwärtig.
Tatsächlich scheint es derzeit so, als müssten wir Europäerinnen und Europäer uns von den friedvollen, gemütlichen Zeiten verabschieden, in denen Konflikte auf diesem Kontinent am Verhandlungstisch ausgetragen wurden, in denen es für alles eine Lösung gab – selbst wenn sie aus einem halbgaren Kompromiss bestand. Irgend etwas ging immer, man lebte ja schließlich in zivilisierten Verhältnissen. Das Wohlstandswachstum war scheinbar grenzenlos, wir wiegten uns in Sicherheit.
Angstmachende Veränderungen
Die Zeitenwende kam freilich nicht erst mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Sie war schon davor sehr stark spürbar. Hätte sich jemand vor fünf Jahren vorstellen können, dass die ganze Welt drei lange Jahre im Bann einer Seuche namens Corona stehen würde? Wer hätte vermutet, dass die Bekämpfung dieser Pandemie die Gesellschaft nachhaltig spalten würde? Wer hätte sich ausgemalt, dass die digitale Revolution nicht nur unser Wissen erweitert und uns völlig ungeahnte Möglichkeiten eröffnet – sondern auch Desinformationskampagnen und Verschwörungsgeschwurbel mit sich bringt? Dass ein gewissenloser Demagoge eine scheinbar eherne Demokratie wie die Vereinigten Staaten an den Rand eines gewaltsamen Putsches bringen konnte?
Wem schließlich war die Klimakrise in ihrer Dringlichkeit vor einigen Jahren so bewusst wie heute, und wer hätte voraussagen wollen, dass Russland einst dem Westen das Gas abdrehen würde? Ganz zu schweigen von galoppierender Inflation, drohender Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten – und, trotzdem, einer zunehmenden Verweigerung der Menschen, sich in klassischen Vollzeit-Angestelltenverhältnissen zu binden.
Ungeahnte Möglichkeiten
All das ist in den vergangenen Jahren geschehen, Veränderungen überall, in teils rasender Geschwindigkeit. Es gäbe also genügend Gründe, sich mental einzubunkern und zu hoffen, dass man nicht weiter auffällt und die kommenden Jahre halbwegs unbeschadet übersteht. Oder: Wir machen das Beste daraus. Das gilt für Europa, für Österreich – aber auch für jeden Einzelnen, individuell. Aus Gefahren könnten Chancen, aus Rückschlägen Vorteile werden. Etwa, wenn die Energiepreiskrise tatsächlich die Menschen in Bewegung setzt und Klimaschutz und grüne Energie mehr als ein Lippenbekenntnisse werden, sondern eine echte Umstellung. Das wäre eine Chance für die Umwelt, für grüne Wirtschaft und mehr Unabhängigkeit und infrastrukturelle Sicherheit. Wenn etwa eine der Corona-Lehren wäre, dass unser Bildungssystem eine komplette Neuaufstellung braucht – und diese auch gelingt. Oder wenn der anhaltende Arbeitskräftemangel in fast allen Branchen neue, im Sinne der Gleichstellung auch besser lebbare Arbeitszeitformen hervorbringt.
All das wäre möglich. Man müsste freilich jetzt damit beginnen, die Veränderungen anzunehmen und ein wenig optimistisch nach vorne zu schauen. Alles andere ist ohnehin keine Alternative. (Petra Stuiber, 27.2.2023)