Swetlana Tichanowskaja war zu Besuch in Wien.

Foto: imago / Martin Juen

Am Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine war die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Wien und warb um Unterstützung für die Demokratiebewegung in ihrem Land, wo 2020 Antiregimeproteste brutal niedergeschlagen worden waren. Gekommen war sie auf Einladung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Auf dem Programm standen unter anderem eine Rede bei der Parlamentarischen Versammlung der OSZE sowie ein Treffen mit Nationalratsabgeordneten.

STANDARD: Kürzlich warnte das Regime in Minsk vor einer angeblichen Bedrohung durch die Ukraine. Befürchten Sie, dass da ein Kriegseintritt an der Seite Moskaus vorbereitet wird?

Tichanowskaja: Von der Ukraine geht sicher keine Gefahr für Belarus aus. Natürlich könnte es zu Provokationen an der Grenze kommen, aber diese würden von Lukaschenko oder Putin ausgehen. Wir müssen verstehen, dass Lukaschenko schon jetzt in diesen Krieg involviert ist. Dass die belarussische Armee nicht teilnimmt, ist nicht sein Verdienst. Er weiß, dass es andernfalls Reaktionen in der Gesellschaft oder in der Armee selbst geben könnte.

STANDARD: Meinen Sie, er fürchtet weitere Aufstände für den Fall, dass Belarus mit eigenen Soldaten in den Krieg eintritt?

Tichanowskaja: Unsere Soldaten sind nicht antiukrainisch eingestellt. Und Lukaschenko fühlt sich nicht sicher. Mit den Repressionen will er beweisen, dass er die Lage kontrolliert. Aber er weiß: Die Stimmung in Belarus kocht. Die Proteste 2020 kamen spontan, wir hatten keine Strukturen. Nun haben sich die Menschen in die Unsichtbarkeit zurückgezogen und kommunizieren dort. Sie sparen ihre Energie auf für den Moment, an dem sich ein Fenster der Möglichkeit öffnet. Auf diesen Moment bereiten wir uns vor.

STANDARD: Auch wenn belarussische Soldaten derzeit nicht in Putins Krieg mitkämpfen, so ist das Land dennoch zum Aufmarschgebiet für russische Truppen geworden. Wie wird das in Belarus wahrgenommen?

Tichanowskaja: Die 10.000 bis 12.000 russischen Soldaten, die in Belarus stationiert sind, sollen die ukrainischen Truppen von der Front in der Ostukraine ablenken, aber sie verbreiten auch Angst in unserer Bevölkerung. Wir nennen das "schleichende Okkupation". Es gibt sie nicht nur im militärischen Bereich, sondern auch in der Kultur, in der Wirtschaft und in den Medien.

STANDARD: 2020 hatte man den Eindruck, dass die Menschen im eigenen Land für Demokratie kämpfen, dass eine geopolitische, eine "prowestliche" Komponente dabei aber vermieden wurde. Hat sich das mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine geändert?

Tichanowskaja: Der 24. Februar 2022 war ein Schock. Wir haben gesehen: Wir sind nicht wie Russland! Wir wollen niemanden besetzen, wir wollen in Frieden leben. 2020 haben wir nicht über Geopolitik gesprochen, wir haben unseren Kampf für die Demokratie als internen Kampf gesehen. Aber jetzt sind die Menschen klar europäisch eingestellt. Sie verstehen, dass unser Land nur prosperieren kann, wenn wir dieselben Werte beachten wie die demokratischen Staaten.

STANDARD: Sie leben im litauischen Exil. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Tichanowskaja: Wir haben 2020 nicht sofort Strukturen im Exil geschaffen. Wir dachten, dass wir bald nach Belarus zurückkehren und sie dort aufbauen würden. Inzwischen ist aber viel Zeit vergangen. Im August 2022 haben wir das Vereinte Übergangskabinett gegründet. Dort sind die wichtigsten politischen Kräfte vereint. Zudem gibt es in 15 Ländern, darunter in Österreich, parlamentarische Gruppen für ein demokratisches Belarus, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir halten das Thema auf der Agenda, unterstützen die Zivilgesellschaft oder übernehmen Patenschaften für politische Gefangene.

STANDARD: Ihr Mann ist seit 1000 Tagen in Haft. Stehen Sie mit ihm in Kontakt?

Tichanowskaja: Nur über seinen Anwalt. Und meine Kinder können ihm Briefe schreiben. Die Haftbedingungen für politische Gefangene sind viel schlimmer als für Kriminelle. Sie müssen sogar gelbe Abzeichen tragen: Niemand darf mit ihnen sprechen. (Gerald Schubert, 25.2.2023)