In seinem Gastkommentar zeigt der Osteuropa-Experte Wolfgang Mueller auf, warum die Ukrainerinnen und Ukrainer weiter bereit sind zu kämpfen – und welche Bedeutung die westliche Hilfe hat.

Frieden für die Ukraine wird allerorts gefordert. Ob am 23. Februar, wie hier im Bild, oder am Samstag, 25. Februar, in Berlin. Aber wie gelingt nachhaltiger Frieden?
Foto: EPA / Hannibal Hanschke

Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist sein Ende nicht absehbar. Das Kriegsziel war und ist die Zerschlagung und Gleichschaltung der Ukraine als Staat und Nation. Geschätzt 120.000 bis 200.000 Tote, bitteres Leid und Schäden in Höhe von hunderten Milliarden Euro hat der Überfall bisher verursacht – täglich nehmen Opferzahlen, Schäden und Leid zu. Besonders verheerend ist die Lage an der Front, aber auch in den besetzten Gebieten.

Die Besetzung und Annexion betrifft etwa 17 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets mit einer Vorkriegsbevölkerung von neun Millionen Menschen. Bei freien Meinungsumfragen des Kiewer Instituts für Soziologie zu Beginn des Konflikts 2014 zeigten sich in allen betroffenen Bezirken klare Mehrheiten von 52 Prozent (Luhansk) bis 92 Prozent (Cherson) für die Zugehörigkeit zur Ukraine, während Minderheiten von 3,5 Prozent (Cherson) bis 30 Prozent (Luhansk) eine Abspaltung befürworteten. In den Gebieten unter ukrainischer Kontrolle hat sich daran bis Anfang 2022 nichts Grundlegendes geändert.

In den 2022 besetzten Gebieten wurden durch die Aggression ganze Städte wie Mariupol eingeäschert, Menschen inhaftiert, gefoltert, ermordet, Kinder zwangsdeportiert. Butscha und Irpin, aber auch Cherson haben das Grauen unter Besatzungsherrschaft offenbart.

Warum weiterkämpfen?

Die Ukraine verteidigt sich und versucht, möglichst viele Menschen aus der Besetzung zu befreien. Zehn Prozent der ukrainischen Bevölkerung befürworteten im Oktober 2022 Verhandlungen, selbst wenn dies Konzessionen an den Aggressor bedeuten würde. In aktuellen Umfragen befürworten 86 Prozent die Fortsetzung des Kampfes bis zur Befreiung der besetzten Gebiete. Angesichts der Kriegsziele des Aggressors und der genozidalen Aspekte der Aggression kommt eine Kapitulation für sie nicht infrage. 95 Prozent glauben an eine erfolgreiche Abwehr der Aggression. Die meistgenannte Motivation ist die Verteidigung von Freiheit, Sicherheit und Demokratie für das eigene Land, aber auch für Europa.

141 Staaten haben bei der ersten Ukraine-Resolution in der Uno die Aggression und Annexionen verurteilt und einen Rückzug Russlands gefordert, 143 Staaten in der Generalversammlung, nur sieben stimmten in der Uno dagegen. Viele, vor allem westliche Staaten, aber auch Japan, Australien, Südkorea und Neuseeland unterstützen die Ukraine. Die Hilfe folgt klaren Zielen: die Verteidigung der Ukraine zu ermöglichen, einen Genozid, Massenflucht und ein Abgleiten der internationalen Ordnung in das Faustrecht zu verhindern, das Aggressionspotenzial zu reduzieren, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Nicht zuletzt aus letzterem Grund treffen Waffenlieferungen überschaubar und langsam ein.

Internationale Solidarität

Laut Eurobarometer unterstützten im Herbst 2022 in der EU 74 Prozent diese Politik, in Schweden 97, in Deutschland 71, in Österreich und Orbán-Ungarn etwa 60. Daneben ist die Ansicht verbreitet, dass der Krieg so bald wie möglich enden solle und es Verhandlungen bedürfe. Dabei ist noch unklar, welche Aussicht Verhandlungen mit einem Aggressor haben, der Verträge gebrochen und sein Kriegsziel nicht aufgegeben hat.

Einige Oppositionelle im Westen fordern sogar, die westliche Waffenhilfe für die Verteidiger einzustellen. Eine Unterlassung von Hilfe bei der Selbstverteidigung aber widerspräche dem Solidaritätsprinzip ebenso wie der aus der Uno-Charta und der Resolution "Uniting for Peace" sprechenden Verantwortung zur kollektiven Wiederherstellung des Friedens.

"Selbst wenn der Kampf an der Front zum Erliegen käme, wäre das aber, wie die Erfahrung zeigt, nicht notwendigerweise das Ende von Gewalt und Unterdrückung und keine Rückkehr zu Frieden in Freiheit – im Gegenteil."

Eine solche Unterlassung würde die Verteidiger massiv benachteiligen und eine geordnete Verteidigung ihres Landes, von Freiheit und Sicherheit mittelfristig verunmöglichen. Selbst wenn der Kampf an der Front zum Erliegen käme, wäre das aber, wie die Erfahrung zeigt, nicht notwendigerweise das Ende von Gewalt und Unterdrückung und keine Rückkehr zu Frieden in Freiheit – im Gegenteil. Ferner gäbe es wenig Gewähr, dass die eroberten Gebiete nicht als Basis für weitere Aggression benützt würden. Schließlich könnte ein derartiger Kriegsausgang andernorts Nachahmer auf den Plan rufen; weitere Krisen würden wahrscheinlich. Zuletzt würde ein solcher Konfliktausgang den Aggressor stärken, die internationalen Friedensordnung untergraben und den Westen schwächen.

Welche Art Frieden?

Die Uno-Resolution vom 23. Februar hat als Rahmenbedingungen einen Waffenstillstand und Rückzug des Aggressors vom völkerrechtlich anerkannten Territorium der Ukraine gefordert. Obschon Peking sich bei der Abstimmung enthalten hat und zu seiner Partnerschaft mit Russland steht, hat es in seinem veröffentlichten Positionspapier ebenfalls das Prinzip der territorialen Integrität aller Staaten und damit auch der Ukraine bekräftigt. Beide Deklarationen beinhalten somit ein starkes Druckmittel für einen Rückzug des Aggressors. Damit ist der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Freiheit und Sicherheit für alle Beteiligten noch lange nicht vorgezeichnet, aber ein starker Impuls in diese Richtung gegeben.

Solange ein nachhaltiger Friede nicht erreicht ist, wird westliche Hilfe existenzielle Bedeutung für dessen Erlangung haben. Daher setzt die westliche Staatengemeinschaft auf Unterstützung für die Ukraine, wirtschaftlichen und politischen Druck, um einen Rückzug des Aggressors zu erreichen, eine Ausweitung des Krieges zu vermeiden und dabei einen Frieden in Freiheit und Sicherheit für alle Beteiligten anzustreben. Ein Ende des Krieges und sein Ausgang bleiben dennoch weiter ungewiss. (Wolfgang Mueller, 26.2.2023)