Die Österreicherin Thea Ehre gewann für ihre erste Kinorolle in "Bis ans Ende der Nacht" einen Silbernen Bären.

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Am Samstagabend wurden die Preise der 73. Berlinale vergeben. Nachdem die Juryvorsitzende Kristen Stewart zu Festivalbeginn angekündigt hatte, dass sie "schludrige, imperfekte Filme" möge, dass es ihr mehr um das Thema gehe als um Perfektion und dass sie Neues, Unbequemes und nicht immer dasselbe sehen möchte, durfte man gespannt sein, worauf sich ihre hochkarätige Jury einigen konnte.

Am Abend der Preisverleihung schlug Stewart dann kompromissreichere Töne an: Sie habe viel gelernt aus den Diskussionen mit ihren Kollegen und Kolleginnen, vor allem auch, ihre eigene Perspektive zu hinterfragen. Wurde die rockige Stewart etwa weichgespült? Wenn es nach den Preisen geht, dann könnte man das fast befürchten.

Hauptpreis für Dokumentarfilm

"Sind sie verrückt, oder was?", fragte denn auch ein ungläubiger Nicolas Philibert, als ihm Stewart den Goldenen Bären für den besten Film überreichte. Sein Film Sur l’Adamant war der einzige Dokumentarfilm des eklektisch zusammengewürfelten Wettbewerbs: Polizeithriller, Romanzen, Animationsfilme und knallhartes Kunstkino, alles war dabei, nur nichts Herausragendes. Da konnte man zu dem Schluss kommen, dass Carlo Chatrian einen Verlegensheitswettbewerb zusammenstellen musste – wahrscheinlich weil Festivals wie Cannes und Venedig die besseren und größeren Filme des letzten Jahres abgeworben hatten.

Der Goldene Bär an Sur L' Adamant ist denn auch Ausdruck dieser Verlegenheit. Ein solide inszenierter Dokumentarfilm über eine psychiatrische Tagesklinik am Seine-Ufer in Paris, ja. Aber etwas Schludriges, Neues, Wagemutiges? Eher nicht. Philibert verfolgt die Klienten dieser Klinik neugierig, gibt ihnen Raum, ihre Geschichten zu erzählen. Doch meist bleibt er im Hier und Jetzt: Bei der Tagesordnung sozusagen und den Momenten, in denen all jene mit psychischen Problemen zusammenfinden und ihre Tagesabläufe gestalten.

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Keine Hauptpreise an Regisseurinnen

Obwohl der Wettbewerb mit sechs Filmen von Regisseurinnen bestückt war, gewannen nur Regisseure die Hauptpreise. Christian Petzold etwa. Er erinnerte in seiner Dankesrede für den Großen Preis der Jury an Carlos Saura, den jüngst verstorbenen spanischen Filmemacher. Petzold reüssierte mit seinem Ensemblefilm Roter Himmel, in dem neben seiner Muse Paula Beer auch der Wiener Thomas Schubert spielt. Ein Sommer an der Ostsee, der zwischen Verliebtheit, Waldbrand und Schaffenskrise oszilliert.

Den Preis der Jury erhielt der Portugiese João Canijo. In Mal Viver portraitiert er mit großer Eindringlichkeit fünf Frauen in einem abgelegenen Hotel, die sich mit vergrabenen Konflikten auseinandersetzen. Um die Riege der Altmeister abzuschließen, sicherte sich der Franzose Philippe Garrel den Regiepreis für Le grand chariot. Ein Ensemble-Familienfilm, über eine ehemalige Puppenspielerfamilie, die sich langsam von ihrer Tradition löst. Sehenswert und très français, doch wieder weder neu noch aufregend.

Einzig den Drehbuchpreis an Angela Schanelecs sperrige Ödipus-Interpretation Music dürfte man als wagemutig bezeichnen, denn ihr Erzählen entzieht sich radikal den Konventionen und spaltet Publikum wie Kritik.

Schauspielpreise mit Trans-Agenda

Die Schauspielpreise waren dagegen erstmals voll und ganz der Transgender-Thematik verschrieben und gingen an Kino-Novizinnen. Beste Hauptdarstellerin wurde die beeindruckende Kinderdarstellerin Sofía Otero aus dem spanischen Wettbewerbsfilm 20.000 especies de abejas. Darin spielt die Achtjährige einen kleinen Jungen, der lieber ein Mädchen sein möchte, vor dem Hintergrund einer atemberaubenden baskischen Landschaft.

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Die österreichische Transschauspielerin Thea Ehre erhielt den Preis für die beste Nebenrolle und großen Applaus. Wenn auch Christoph Hochhäuslers Polizeithriller Bis ans Ende der Nacht die Jury nicht überzeugen konnte, dürfte ihr Kinodebüt darin der Startschuss einer vielversprechenden Karriere sein.

Ehrenpreise an französische Kamerafrauen und Spielberg

Weiters wurde zwei französischen Kamerafrauen die Ehre erwiesen. Hélène Louvart erhielt den Silbernen Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung für ihre Kameraarbeit in Giacomo Abbruzzes Disco Boy und Caroline Champetier wurde mit dem Ehrenpreis "Berlinale Kamera" ausgezeichnet. Ihre Filmografie umfasst mehr als 100 Filme, unter anderem arbeitete sie mit François Truffaut, Chantal Akerman und Jean-Luc Godard. In jüngster Zeit drehte sie viel mit Leos Carax, etwa zu Holy Motors (2012) und Annette (2021).

Ebenfalls absolut verdient ist der Goldene Ehrenbär für den Hollywood-Veteran Steven Spielberg. Sein filmisches Werk habe dem "Kino als Traumfabrik eine neue Bedeutung" verliehen, so das Berlinale-Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Bald wird sein neuester und persönlichster Film The Fabelmans in den Kinos anlaufen.

Preise der Nebensparten auch nach Österreich

Nach Österreich ging der Caligari-Filmpreis für den Filmessay De Facto von Selma Doborac sowie der Preis des besten Erstlingsfilms an Adentro mío estoy bailando (The Klezmer Project) von Leandro Koch und Paloma Schachmann, ein mitreißender Road-Trip durch Osteuropa auf der Suche nach Klezmer und der Liebe.

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Diversität, Politik und Aktualität in Nebensparten

Was im Großteils Wettbewerb zu vermissen war – Einfallsreichtum, Diversität, Politik und Aktualität – erfüllten die Nebensparten vorbildlich. Ein großer Gewinner war hier der Dokumentarfilm Orlando, ma biographie politique von Paul B. Preciado, aus der Spezialsparte Encounters. Der Film basiert auf Virginia Woolfs Roman Orlando und erzählt von Menschen aus verschiedenen Ländern, die ihr biologisches Geschlecht geändert haben.

Ein Kopf an Kopf Rennen widmete sich Orlando mit dem mexikanischen Film El Echo von Tatiana Huezo, der gleich zwei Preise abräumen konnte: Den des besten Dokumentarfilms und den Encounters-Regiepreis. Die Regisseurin war sichtlich berührt und widmete ihre Preise den Frauen in Mexiko, die unter widrigen Umständen Filme drehen und die kinematografischen Grenzen erweitern.

Westeuropa gewinnt

Das wiederum lenkte den Blick darauf, dass ein vielversprechender Wettbewerbsfilm wie Totém der Mexikanerin Lila Avilés keinerlei Auszeichnung erhielt. Auch die asiatischen Animationsfilme Suzume und Art Academy 1994 gingen leer aus, ebenso wie der Kritikerliebling Past Lives von Celine Song. Ein sehr Europalastiges und etwas enttäuschendes Ende einer Berlinale-Woche ohne wirkliche Höhepunkte im internationalen Wettbewerb. (Valerie Dirk aus Berlin, 25.02.2023)