Mehrere österreichische Kanzleien, die Büros in Kiew haben, sind trotz Kriegsausbruchs unter erschwerten Bedingungen weiter in der Ukraine aktiv.

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Als Olena Stakhurska in den frühen Morgenstunden des 24. Februars 2022 von Explosionen aus dem Schlaf gerissen wurde, wusste sie zunächst nicht, was los war. Erst die Chatnachricht eines amerikanischen Bekannten bestätigte ihre Befürchtungen: Russland marschierte in die Ukraine ein, auch in der Hauptstadt Kiew fielen Bomben. Stakhurska hatte in den Monaten zuvor öfter über eine Flucht nachgedacht, doch jetzt musste alles schnell gehen. Sie nahm den bereits für drei Tage gepackten Koffer in die eine und ihre zweijährige Tochter in die andere Hand, tankte so viel Benzin wie möglich und fuhr mit dem Auto aus der Stadt.

Stakhurska ist Ukrainerin, Rechtsanwältin und Partnerin der internationalen Wirtschaftskanzlei Taylor Wessing, die seit 2008 ein Büro in Kiew betreibt. Aufgrund ihrer Schwerpunkte auf Unternehmensrecht und Arbeitsrecht hatte sie sich schon in der Vergangenheit mit Migration und Flucht beschäftigt. Ein halbes Jahr zuvor berieten sie und ihr Team etwa Menschen, die aufgrund der Machtübernahme der Taliban aus Afghanistan flüchten mussten. Dass sie und ihre Kollegen selbst in eine ähnliche Situation kommen würden, war für die Anwältin bis zuletzt aber nur schwer vorstellbar.

Wien als Zentrum für Osteuropa

Als Stakhurska am 24. Februar 2022 ins Auto stieg und Richtung Westen fuhr, hatte sie ein klares Ziel vor Augen: die Grenze zur Slowakei. Der Weg dorthin war allerdings beschwerlich. Die Autobahnen waren überfüllt, der Verkehr stand zum Teil völlig still. Stakhurska suchte gemeinsam mit ihrer Schwester und deren Mann einen Weg über Landstraßen bis zur Grenze. In der Slowakei konnte sie zum ersten Mal durchatmen. Während der gesamten Flucht über die Slowakei nach Österreich waren die Büros von Taylor Wessing in Bratislava und Wien eingebunden und mit Stakhurska in engstem Kontakt.

Die Kanzlei steuert wie viele weitere österreichische und internationale Sozietäten von Wien aus ihr Osteuropageschäft. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatten zahlreiche westeuropäische Unternehmen ihre Fühler in den Osten ausgestreckt. Die Anwaltskanzleien zogen mit ihren Mandaten mit. Neben Taylor Wessing haben etwa auch CMS, Wolf Theiss und DLA Piper Standorte in Kiew eröffnet und sind trotz Krieges weiter vor Ort.

Schon in den ersten Stunden auf ihrem Weg von Kiew nach Wien wurde Stakhurska von Unternehmen kontaktiert, die aufgrund des Kriegsausbruchs Rat suchten. "Man ist selbst auf der Flucht, aber gleichzeitig wird man gebraucht", erinnert sich die Anwältin. Mittlerweile betreut sie ihre Mandantinnen und Mandanten von Wien aus. Eine Kollegin aus dem Kiewer Büro folgte ihr ein Monat später nach. Zwei weitere Kollegen sind nach wie vor in der Ukraine, arbeiten aber im Homeoffice. "Die Büroräume in Kiew sind mittlerweile leer", sagt Raimund Cancola, Managing Partner für die Central and Eastern European Countries (CEE). "Die gesamte IT-Infrastruktur haben wir bereits in den ersten Tagen gesichert und alle Daten aus der Ukraine auf einen Server in Wien übertragen."

Olena Stakhurska bleibt vorerst in Wien.
Foto: Taylor Wessing

Wirtschaft resilienter als erwartet

Die Arbeit laufe virtuell so weiter wie bisher. Glücklicherweise habe die Pandemie dazu geführt, dass die notwendige technische Infrastruktur bereits vorhanden war. Die tägliche Arbeit ist dennoch mit Problemen verbunden. Stromausfälle erschweren die laufende Kommunikation in die Ukraine. Behördenwege, die die Kolleginnen und Kollegen vor Ort übernehmen, müssen bei Bombenalarm verschoben werden. "Das sind die neuen Realitäten, mit denen wir uns zurechtfinden müssen", sagt Stakhurska. Cancola ergänzt: "Wir haben unsere laufenden Mandate natürlich weiter betreut. Bei neuen Aufträgen überlegen wir uns gut, ob wir sie realistischerweise auch erfüllen können."

Dass das Geschäft nach einer Schockstarre im Frühjahr wieder anlief, ist für den Juristen eine äußerst positive Nachricht. Schließlich zeige die Entwicklung, wie resilient die ukrainische Wirtschaft ist. Sie leiste damit auch einen bedeutenden Beitrag zum zivilen Widerstand. "Es wird dennoch enorme finanzielle Mittel brauchen, um das Land nach dem Krieg wieder neu aufzubauen", sagt Anwalt Cancola. Damit westliche Unternehmen in die Ukraine investieren, müsse die Politik mit Garantien und Sicherungen die notwendigen Rahmenbedingungen dafür schaffen. (Jakob Pflügl, 27.2.2023)