Don José (Vincent Schirrmacher) und Carmen (Natalia Ushakova).

Foto: Christian Husar

In der beschaulichen Kurstadt ist wieder fast alles wie früher – nicht wie zu Kaisers Zeiten, aber immerhin wie vor Corona. Mit einem Budget von gut zehn Millionen Euro stemmt die Bühne Baden pro Spielzeit acht Premieren und unterhält mit ihrem Programm (hauptsächlich Operetten und Musicals) um die 80.000 Besucher, die Auslastung soll bei etwa 80 Prozent liegen. Mit dem Stadttheater von Helmer & Fellner und der charmanten Sommerarena im nahen Kurpark bespielt der "kulturelle Nahversorger" zwei architektonische Preziosen. Der Vertrag mit Intendant Michael Lakner wurde vor kurzem bis September 2025 verlängert.

Der 64-Jährige ist ein Mann für alle Fälle. Für die Neuproduktion von Bizets populärer Oper Carmen hat sich der Intendant und Hausdramaturg selbst als Regisseur und Bühnenbildner verpflichtet: Multijobbing à la Harald Mahrer. Die Szene wird dominiert von einer Treppe, die sich im Schmuggler-Akt teilt und zur lilafarbenen Schlucht mutiert. In Kooperation mit den in einer kunterbunten Pseudo-Gegenwart angesiedelten Kostümen (Mareile von Stritzky) und einer platten Kulissenmalerei ergibt das ein Ambiente heiterer Geschmacksbefreitheit.

Den Don José gibt bei der Premiere überraschenderweise nicht Michael Lakner, sondern Vincent Schirrmacher. Gut so: Der Kammersänger ist nicht nur an der Wiener Volksoper eine Bank. Sein Tenor ist raumfüllend und klangschön, seine Spezialität sind endlose, tragfähige Kantilenen. Vor dem tragischen Ende, Schirrmacher ist ob seiner Zerrüttung durch die Abweisung Carmens lebensecht auf emotionales Wrack geschminkt, berührt sein Sergeant ganz besonders.

Flüsternde Nymphomanin

Natalia Ushakovas Carmen lässt einen wiederum auf gänzlich andere Weise mitleiden. Lakner sieht die selbstbewusste Tabakarbeiterin als "kompromisslose Nymphomanin" und stellt die 54-jährige Sängerin bei der Umgarnung von Don José am Ende des ersten Akts knallhart in schwarzer Reizwäsche unter eine rosarote Laterne. Ushakova, einst eine Violetta an der Wiener Staatsoper und eine Königin der Nacht in Prag, interpretiert die Carmen hauptsächlich im Flüsterton, ihre Mittellage ist kaum existent. Womöglich eine Art des stummen Protests gegen den Regiezugriff.

Die anderen Sängerinnen hört man gut: Ivana Zdravkova singt die Micaëla mit sauberem, putzigem Sopran, erfrischend auch Loes Cools und Domenica Radlmaier als Frasquita und Mercédès. Gezim Berisha gibt einen virilen Hingucker-Zuniga. Das Orchester der Bühne Baden musiziert unter der Leitung von Michael Zehetner mit Karacho, die Geigen tremolieren schon bei der Ouvertüre um ihr Leben; der Chor ist auch top. Ah ja: Gesungen wird auf Deutsch! Demonstrativer Premierenjubel im auf andalusische Temperaturen hinaufgeheizten Stadttheater. (Stefan Ender, 26.2.2023)