Die Kluft zwischen Chinas schwindender physischer Stärke und seinen Ambitionen führt zu strategischen Fehleinschätzungen, sagt Yi Fuxian, Wissenschafter an der University of Wisconsin-Madison. In seinem Gastkommentar sieht er Parallelen zu Russland.

Im Jänner hat China offiziell bestätigt, dass seine Bevölkerungszahl seit dem vergangenen Jahr zurückgeht – rund neun Jahre früher, als chinesische Demografen und die Vereinten Nationen prognostiziert haben. Die Folgen sind kaum zu überschätzen: Es bedeutet, dass Chinas gesamte Wirtschafts-, Außen- und Verteidigungspolitik auf fehlerhaften Bevölkerungsdaten beruht.

So hatten Ökonomen der chinesischen Regierung prognostiziert, dass Chinas Pro-Kopf-BIP 2049 die Hälfte oder sogar drei Viertel des Pro-Kopf-BIP der USA erreichen würde, während sein gesamtes Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis dahin auf das Doppelte oder sogar Dreifache des US-BIP steigen würde. Doch ging man davon aus, dass die Bevölkerung Chinas 2049 viermal so groß sein würde wie die der USA. Die wahren Zahlen erzählen eine deutlich andere Geschichte. Angenommen, es glückt China, seine Geburtenrate bei 1,1 Kindern pro Frau zu stabilisieren, wird seine Bevölkerung 2049 lediglich 2,9-mal so groß sein wie die der USA, und all seine Kennzahlen demografischer und wirtschaftlicher Vitalität werden deutlich schlechter ausfallen.

Familienspaß in Peking: Gesamt gesehen wird Chinas Bevölkerung immer älter, die Kinder fehlen. Die Auswirkungen der niedrigen Geburtenrate werden drastisch sein.
Foto: AP / Mark Schiefelbein

Diese fehlerhaften Prognosen betreffen nicht allein China. Sie legen einen geopolitischen Schmetterlingseffekt nahe, der letztlich die bestehende Weltordnung zerstören könnte. Chinas Behörden handeln bisher im Einklang mit ihrer langjährigen Annahme eines im Aufstieg begriffenen Ostens und eines im Abstieg begriffenen Westens.

Der russische Präsident Wladimir Putin glaubte in ähnlicher Weise, dass, solange Russland stabile Beziehungen zu einem aufsteigenden China unterhielte, der im Abstieg begriffene Westen unfähig sein würde, ihn für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen. Und mit ihrem hastigen Rückzug aus Afghanistan mit dem Ziel, ihre Ressourcen auf China zu konzentrieren, haben die USA Putin womöglich unbeabsichtigt hierin bestärkt.

Dauerhafte Belastung

Die Bevölkerungsalterung wird für die chinesische Volkswirtschaft eine dauerhafte Belastung darstellen. Schließlich weist, wie die Erfahrung Italiens zeigt, der Altersabhängigkeitsquotient (die Zahl der über 64-Jährigen, geteilt durch die Zahl derjenigen zwischen 15 und 64) eine starke negative Korrelation mit dem BIP-Wachstum auf, und Gleiches gilt für das Medianalter und den Anteil der über 64-Jährigen.

Im Jahr 1980 lag das Medianalter in China bei 21 Jahren; das waren acht Jahre weniger als in den USA. Und zwischen 1979 und 2011 wuchs Chinas BIP mit einer jährlichen Durchschnittsrate von zehn Prozent. Im Jahr 2012 jedoch begann Chinas Erwerbsbevölkerung im Alter zwischen 15 und 59 zu schrumpfen, und 2015 war das BIP-Wachstum auf sieben Prozent zurückgegangen. Seitdem ist es weiter auf drei (2022) gesunken.

China hinter Indien

Durchschnittlich 23,4 Millionen Geburten pro Jahr zwischen 1962 und 1990 hatten China zur "Fabrik der Welt" gemacht. Doch selbst laut Chinas eigenen, übertrieben hohen offiziellen Zahlen gab es in China im vergangenen Jahr lediglich 9,56 Millionen Geburten. Infolgedessen wird die chinesische Industrieproduktion weiter sinken, was zu verstärktem Inflationsdruck in den USA und anderswo führen wird.

Während Chinas Bevölkerung 1975 1,5-mal so groß war wie die Indiens, zeigen selbst die übertrieben hohen offiziellen Zahlen der chinesischen Regierung, dass sie im vergangenen Jahr kleiner war (1,41 Milliarden im Vergleich zu 1,42 Milliarden). In Wahrheit ist Indien bevölkerungsmäßig schon vor einem Jahrzehnt an China vorbeigezogen, und wenn sich die bisherige Entwicklung fortsetzt, wird Indiens Bevölkerung 2050 fast 1,5-mal so groß sein wie die Chinas. Das Medianalter wird in Indien dann bei 39 liegen; das ist eine volle Generation jünger als in China (57).

Langsamer Niedergang

Natürlich investiert China stark in künstliche Intelligenz und Robotik, um den durch die Bevölkerungsalterung bedingten wirtschaftlichen Abschwung auszugleichen. Doch lässt sich mit derartigen Bemühungen nur bedingt viel erreichen, weil es zur Fortsetzung der Innovation junger Gehirne bedarf. Zudem konsumieren Arbeitsroboter nicht, und der Konsum ist die Hauptantriebskraft jeder Volkswirtschaft.

Chinas Niedergang wird allmählich verlaufen. Es wird noch auf Jahrzehnte hinaus die zweit- oder drittgrößte Volkswirtschaft bleiben. Doch die enorme Kluft zwischen seiner schwindenden demografischen und wirtschaftlichen Stärke und seinen wachsenden politischen Ambitionen könnte es hochgradig anfällig für strategische Fehleinschätzungen machen. Erinnerungen an vergangene Ruhmeszeiten oder die Furcht vor Statusverlusten könnten es denselben gefährlichen Pfad hinab führen, den Russland in der Ukraine verfolgt.

"Der gegenwärtige politische Ansatz der Regierung ist ein Rezept für den demografischen und zivilisatorischen Zusammenbruch."

Die chinesische Führung sollte daher die Lehren aus Russlands Invasion beherzigen und aus ihrem unrealistischen "Chinesischen Traum" nationaler Verjüngung erwachen. Der gegenwärtige politische Ansatz der Regierung ist ein Rezept für den demografischen und zivilisatorischen Zusammenbruch.

Geopolitische Folgen

Auch die USA haben angesichts ihres erkennbaren Versagens im Umgang mit dem im Niedergang befindlichen Russland einiges zu lernen. Die USA und ihre Verbündeten – darunter Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland, die Europäische Union, Japan und Südkorea – werden es ebenfalls mit einer gesellschaftlichen Alterung und daraus herrührenden Wirtschaftsabschwüngen zu tun bekommen. Ihr gemeinsamer Anteil an der Weltwirtschaft ist bereits von 77 Prozent (2002) auf 56 Prozent (2021) gesunken, und dieser Trend wird sich fortsetzen.

Die geopolitischen Folgen sollten offensichtlich sein. Wenn die bedeutenden Mächte klug sind, werden sie guten Glaubens zusammenarbeiten, um eine bleibende Weltordnung zu schmieden, bevor es ihnen dazu an Macht fehlt. (Yi Fuxian, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 27.2.2023)