Verrat, Kollaboration, Korruption: Die Liste an Gründen, weshalb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seit rund einem Jahr verschiedene hochrangige Beamte, Politiker und Militärs entlassen hat, wird nicht eben kürzer. Am Wochenende kam mit der Entlassung von Eduard Moskalow eine weitere prominente Personalie hinzu, die ob der mangelnden Begründung für Spekulationen sorgte. Noch dazu, wo es sich mit Moskalow um den Top-Kommandanten der Vereinigten Streitkräfte der Ukraine in der Donbass-Region handelt. Sein Amt trat Moskalow im März 2022 an – wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion also.

DER STANDARD

Liegt der Grund für Selenskyjs hartes Durchgreifen mitunter nicht doch auch an der zuletzt ins Stocken geratenen ukrainischen Offensive gegen die russischen Besatzer?

Ukrainische Soldaten – hier im Juli 2022 – nutzen, so wie hier eine M777-Haubitze, auch US-Material.
Foto: AP Photo/Evgeniy Maloletka, File

Die Befreiung Chersons im Herbst und kurz zuvor jene der Region Charkiw hatte den ukrainischen Truppen kurz vor Ende des ersten Kriegsjahres ein gewisses Momentum verliehen – die Ukraine, so ließ die Kiewer PR die Welt wissen, ist dank der westlichen Waffenhilfe durchaus imstande, die russischen Besatzer Stück um Stück zu vertreiben. Im Osten, wo sich Russlands Invasion bisher am brutalsten ausgebreitet hat, vermochte sie dies bisher nicht zu wiederholen.

Warum also feuerte Selenskyj einen seiner höchsten Militärs ausgerechnet rund um den traurigen Jahrestag des russischen Überfalls? Einen offensichtlichen militärischen Grund für diesen drastischen Schritt sieht der Sicherheitsanalyst Michael A. Horowitz vom Bahrainer Risikoananalyse-Berater Le Beck International im Gespräch mit dem STANDARD jedenfalls nicht. Klar ist aber, dass es im Donbass, im seit Jahren umkämpften Osten der Ukraine, im vergangenen Jahr für die Ukraine nicht zu ähnlichen Erfolgen wie etwa im Norden oder Süden des Landes kam.

Freilich: Der Osten des Landes war schon bisher ungleich schwerer umkämpft, und die prorussischen Truppen haben seit 2014 einiges an Vorarbeitet geleistet. Gerät und Personal waren bereits in großen Mengen vorhanden, die ukrainischen Stellungen waren der russischen Seite bestens bekannt, die Verteidigungslinien gegraben und das Gelände teils großflächig vermint.

Doch wie steht die Ukraine heute militärisch wirklich da?

  • Die Ukraine wehrt sich verzweifelt: Zuletzt konnten die Verteidiger eine mögliche komplette Einnahme des besonders erbittert umkämpften Bachmut – zumindest bisher – abwehren. Erst zu Wochenbeginn soll der Befehlshaber der ukrainischen Bodentruppen, Generaloberst Oleksandr Syrskyi, die strategisch bedeutende Kleinstadt besucht haben. Selenskyj tat dies im Dezember 2022. Syrskyis Frontbesuch wird als gutes Omen verkauft: Er gilt als Drahtzieher der Niederlage der russischen Streitkräfte zu Beginn des Krieges vor Kiew und im September in der Region Charkiw.

    Auf dem Schlachtfeld selbst geraten seine Truppen, die durch die erbitterte Verteidigung Bachmuts auch russische Kräfte dort binden sollen, aber immer mehr ins Hintertreffen. Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar sprach am Montagabend in Kiew davon, dass Russland eine "Taktik der Zermürbung und der totalen Zerstörung" verfolge. "In Bachmut wird die Situation immer komplizierter", sagte später am Montagabend auch Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache – und bat den Westen postwendend um mehr Waffenlieferungen, Kampfflugzeuge inklusive.

  • Langsame Waffenhilfe: Das, was Selenskyj zuletzt an westlichem Kriegsgerät versprochen wurde, macht sich – bisher jedenfalls – an der Front noch kaum bemerkbar. Erst am Wochenende hatte Polen die ersten drei – von insgesamt mehr als hundert vom Westen zugesagten – modernen Kampfpanzer an die Ukraine geliefert. Anders als bei den Himars-Artilleriesystemen aus den USA, die im Sommer reihum russische Stellungen zerstört und maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Ukraine einen Teil des besetzten Landes wieder befreien konnte, sind etwa von den Leopard-2-Panzern allzu rasch keine Ergebnisse auf dem Schlachtfeld zu erwarten. "Die Leopard 2 werden an der Front wohl nur zum Einsatz kommen, wenn die russischen Streitkräfte massiv durchbrechen sollten, ansonsten sind sie dazu gedacht, den ukrainischen Truppen wieder Beweglichkeit und Offensivfähigkeiten zu verleihen", sagt Militärstratege Philipp Eder, der die aktuelle Lage in der Ukraine für das Bundesheer beobachtet, dem STANDARD.

    Die Entlassung des Donbass-Kommandanten Moskalow durch Präsident Selenskyj hält Eder für ein Ergebnis einer Meinungsverschiedenheit: Für Letzteren sei es politisch wichtig, nicht einmal das kleinste Dorf kampflos zu übergeben, auch angesichts der Kriegsverbrechen, die Russland in den besetzten Gebieten begangen hat. "Die ukrainischen Streitkräfte wollen sich aber auf künftige Offensiven vorbereiten, weshalb das Personal nicht unendlich für Bachmut zur Verfügung stehen kann."
  • Weitreichende Geschoße: Dringender noch benötigten die Verteidiger nun rasch neue westliche Munition, denn gerade an der beginne es etwa in Bachmut mittlerweile zu mangeln – allerdings auf beiden Seiten. Ob die neuen, von den USA bei einem Treffen im deutschen Ramstein in Aussicht gestellten GLSDB-Raketen einen Unterschied machen, muss sich erst zeigen. Ihre Reichweite von 160 Kilometern übertrifft die bisher gelieferten Himars-Geschoße jedenfalls um fast 100 Kilometer – und macht Russlands Munitionsdepots verwundbarer. Auf dem Wunschzettel Kiews standen freilich Raketen, die bis zu 300 Kilometer entfernte Ziele treffen können. Diese zu liefern, sind die USA derzeit aber nicht bereit.

    Und auch was das Personal betrifft, Soldaten also, die beide Seiten in den Kampf schicken können, hängt vieles davon ab, wie groß die Abnützung auch hier tatsächlich wird. Aktuell hat Russland, je nach Quelle, zwischen 400.000 und 520.000 Soldaten in der Ukraine im Einsatz. Die Ukraine hat insgesamt bereits acht bis zehn Mobilisierungswellen hinter sich und kann laut Schätzung auf insgesamt etwa 900.000 Reservistinnen und Reservisten zurückgreifen. Hunderttausende wurden schon einberufen – und allein in Bachmut dürfte jeden Tag eine dreistellige Zahl an Getöteten und Verwundeten zusammenkommen.
Ukrainische Soldaten im Winter bei Bachmut – im Hintergrund ein US-Bushmaster.
Foto: REUTERS/Marko Djurica
  • Kampf um jeden Quadratmeter: Bachmut ist freilich nicht der einzige Frontabschnitt, an dem sich die Verteidiger zur Stunde einer russischen Übermacht erwehren müssen. Rund 150 Kilometer südlich wird in der ehemaligen Kohlestadt Wuhledar aktuell mindestens ebenso hart gekämpft. Ukrainische Truppen konnten die russischen Angreifer dort teils mit einfachsten Mitteln zurückschlagen. Videos zeigen, wie klassische Minenfelder mehrere russische Panzer hintereinander zerstören. Laut dem Sicherheitsexperten Carlo Masala belegt dies die Schwächen in der russischen Ausbildung, wie er im STANDARD-Interview kürzlich sagte. Mehr als 200 Panzer und 20.000 Soldaten soll Russland für die Einnahme der Stadt in die Schlacht geworfen haben, Mehrfachraketenwerfer und Artillerie haben Wuhledar, das an einer wichtigen Bahnverbindung zwischen Donezk und der von Russland besetzten Krim liegt, ebenso wie weiter nördlich Bachmut längst zu Geisterstädten gemacht.

    Worum es geht, ist, Boden gutzumachen – auf beiden Seiten. Die russischen Truppen erhöhen indes den Druck weiter. Im Lagebericht des ukrainischen Generalstabs vom Montagabend heißt es, neben Bachmut habe man auch Angriffe auf Kupjansk, Liman, Awdijiwka und Wuhledar verzeichnet.

  • Faktor Motivation: Wladimir Putins Truppen mögen im Abnützungskrieg im Osten bisher die besseren Karten haben – ohne Spuren geht er aber auch an ihnen nicht vorbei. Neben der offenkundig größeren Moral, zu der auch prestigeträchtige Frontbesuche wie jener von Befehlshaber Syrskyj jüngst in Bachmut beitragen, haben die ukrainischen Streitkräfte schließlich einen weiteren entscheidenden Vorteil: Sie rotieren weit öfter als jene Russlands. Das stärkt die Motivation und sorgt für größere Effektivität auf dem Schlachtfeld, so der auf Open Source Intelligence spezialisierte Horowitz. Für einen angreifenden Staat, der Truppen teils aus weit entfernten Landesteilen rekrutiert, sei dies logistisch ungleich schwieriger. Dass Putin seinen Soldaten lediglich 14 Tage Urlaub alle sechs Monate erlauben will, zeige, wie dünn es um die Frontbesetzung stehe, so Horowitz – der Teilmobilmachung vom Herbst zum Trotz. Eine neue, womöglich noch breitere Rekrutierungsrunde in Russland, die von vielen im Februar erwartet worden war, ist zudem ausgeblieben. Bisher jedenfalls: Der ukrainische Militärgeheimdienst rechnet mit einer weiteren großen Mobilisierungswelle in Russland – sie könnte unmittelbar bevorstehen.
Die Lage der Zivilbevölkerung wird vor allem im Osten der Ukraine immer verzweifelter.
Foto: REUTERS/Marko Djurica
  • Verzögerte Offensive: Aktuell ist die Ukraine jedenfalls damit beschäftigt, aus ihrer starren Position wieder "in die Bewegung" zu kommen, wie es westliche Militärs nicht müde werden zu betonen. Denn ein langer Abnützungskrieg – so der Tenor von Experten – kann nicht im Interesse der Ukraine sein. Dafür sind die russischen Reserven, vor allem die Personalreserven, zu groß.

    Wie also wieder die Initiative erlangen? Neben einer sogenannten Durchschneidung der Landbrücke, welche den Osten der besetzten Ukraine mit der annektierten Krim im Süden verbindet, könnte laut Horowitz die Region rund um Swatowe im Norden ein logisches nächstes Ziel der Ukraine sein. "Swatowe fungiert als wichtiger logistischer Versorgungshub der russischen Kräfte im Donbass. Ihn zu befreien würde jegliche Versuche Russlands, die Oblaste Luhansk und Donezk völlig zu besetzen, schwer beeinträchtigen", sagt der Experte. Putins vorgebliches Kriegsziel, die Verteidigung der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass, wäre somit nur mehr schwer zu erstreiten.

    Dass sich eine großangelegte ukrainische Gegenoffensive bis zum Sommer hinziehen könnte, hält Horowitz wie einige andere Militärexperten für wahrscheinlicher als einen Vorstoß noch im März. Nicht nur die Ankunft, auch die Eingliederung der neuen westlichen Systeme in bestehende Einheiten dauere seine Zeit, "wenngleich Kiew auch in der Vergangenheit immer wieder für Überraschungen gut war", so Horowitz. (Fabian Sommavilla, Florian Niederndorfer, 1.3.2023)