So stellt man sich in Japan die idealen Alten vor: agil und aktiv.

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Massenhafte Selbstmorde als Mittel gegen die starke Überalterung in Japan – mit diesen Vorschlägen hat der junge Ökonom Yusuke Narita für Empörung gesorgt. Inzwischen relativierte Narita, der an der US-Universität Yale unterrichtet, seine Aussagen. Er wollte provozieren, um darauf hinzuweisen, dass die vielen Senioren, die in Wirtschaft und Politik noch das Sagen hätten, endlich die jüngeren Generationen an die Hebel lassen sollten.

Japans extreme Demografie bestätigt seine Analyse. 35 Prozent der Wahlberechtigten sind über 65 Jahre alt, auf zwei Rentner kommt nur ein Minderjähriger unter 15. Damit liefert Japan das Musterbeispiel für eine Gerontokratie, eine Herrschaft der Alten. Keine Partei, kein Politiker kann ihre Interessen mehr missachten. Aber das geschieht ohnehin nicht, weil Japans Senioren die Hebel der Macht nie losgelassen haben. Die Firmenchefs haben im Schnitt schon 60,5 Jahre auf dem Buckel, die Abgeordneten im Parlament fast 56 Jahre.

Staat ertrinkt in Schulden

Japan vernichtet seinen Wohlstand, anstatt ihn den jüngeren Generationen zu vererben. Rentenzahlungen und Gesundheitskosten verschlingen bereits ein Drittel der Ausgaben, obwohl der Staat längst in Schulden ertrinkt. Kein anderes Land der Welt verwendet so viele Krankenhausbetten, um pflegebedürftige Alte zu verwahren. Bald wird jeder fünfte Rentner an Demenz leiden – Weltrekord.

Diese Daten sind der fruchtbare Boden für Provokationen wir die von Narita, die Alten mögen sich doch bitte möglichst schnell selbst abschaffen. Historische Präzedenzfälle dafür gibt es. Das mittelalterliche Japan praktizierte "ubasute" oder "Oma-Dumping" – man setzte alte Frauen zum Sterben in den Bergen aus. Der langjährige Finanzminister Tarō Asō, selbst 82 Jahre alt, nannte künstlich ernährte, bettlägerige Alte "Röhrenmenschen, die man sterben lassen sollte".

"Demografische Bombe"

Bisher spielt sich die Pflegekatastrophe im Verborgenen ab, im stillen Kämmerlein der Familien, die ihre Alten bis zur Erschöpfung pflegen. Weder muckt die Jugend gegen die Dominanz der Großeltern auf, noch werden Senioren übermäßig diskriminiert. Währenddessen versucht der Staat, diese "demografische Bombe" zu entschärfen, und propagiert eine "100-jährige Gesellschaft": Rentner sollen durch Erwerbs- und Freiwilligenarbeit die Gesellschaft unterstützen und die staatlichen Kassen entlasten.

Senioren erhalten das gesetzliche Recht (!) auf Weiterbeschäftigung und dürfen ohne Rentenkürzung kräftig dazuverdienen. In der ebenfalls offiziell angestrebten "Gesellschaft 5.0" steigern künstliche Intelligenz und Roboter die Arbeitsproduktivität, die Versorgung von Pflegebedürftigen wird automatisiert. Diese Strategie wirkt nur auf den ersten Blick humaner als Euthanasie – wer möchte sich schon von einer Maschine beim Sterben begleiten lassen?

Schule statt Pensionierung

Das Mitsubishi-Forschungsinstitut hat eine bedenkenswerte Vision für eine superalte Gesellschaft entworfen, die über deprimierende Aspekte wie ausufernde Demenz und niedergehende Staatsfinanzen hinwegschaut. Chefdenker Tomoo Matsuda wirbt für eine "Platingesellschaft" mit einer positiven Sichtweise bezüglich Superalterung. "Wir sprechen in Japan oft von einer Silbergesellschaft, weil die Haarfarbe der Alten silbrig-weiß ist. Aber Silber oxidiert, während Platin nie an Glanz verliert", erläutert Matsuda die Initiative, der sich schon hunderte Firmen, Universitäten, Städte und Gemeinden angeschlossen haben.

Alle Japaner sollten nach dem Pensionseintritt noch einmal für einige Monate zur Schule gehen, schlägt Matsuda vor. Dort würden sie Alterskrankheiten wie Demenz erkennen lernen und einfache medizinische Handgriffe und Strategien für eine Verlangsamung des Verfalls wie regelmäßiges Krafttraining einüben. Statt auf die Alten als Menetekel zu starren, blickt die Platin-Gesellschaft mehr auf die anderen Generationen. Schließlich sind nur 29 Prozent der Bevölkerung in Japan über 65, die Mehrheit von 71 Prozent ist jünger.

"Gesunde Lebenserwartung"

Doch an der Tatsache der Gerontokratie ändern weder die 100-jährige noch die Platin-Gesellschaft etwas. Da kann kaum trösten, dass Japans Senioren den Jüngeren weniger zur Last fallen als anderswo. Erstens arbeitet jeder zweite 65- bis 69-Jährige und lebt nicht völlig auf Kosten der Jugend. Zweitens haben Japans Alte die weltweit höchste "gesunde Lebenserwartung", also die Lebenszeit ohne schwere Krankheit und ohne Pflegebedürftigkeit, und brauchen daher erst relativ spät Hilfe. Drittens besitzen die über 60-Jährigen rund 60 Prozent der nationalen Ersparnisse. Damit unterstützen sie die Generationen nach ihnen und sichern durch einen hohen Konsum deren Arbeitsplätze.(Martin Fritz aus Tokio, 28.2.2023)