Laut Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft können sich Betroffene rechtlich gut gegen Mobbing wehren. In der Praxis tun das aber nicht alle. Ein Problem ist laut der Bildungsexpertin Christiane Spiel, dass Schulen unterschiedlich auf Mobbing reagieren.

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Im Idealfall ist eine Schulklasse eine Art Schicksalsgemeinschaft – im positiven Sinne: eine Gruppe, in der man Freundinnen und Freunde findet, einander beim Lernen unterstützt; und die einem den Rahmen gibt, in dem man sich entfalten kann. Nicht für die 13-jährige Sofie: Über Monate sekkierte ein Mädchen aus der Klasse sie mit bösen Blicken und Beleidigungen. Eine Dynamik setzte sich in Gang; weitere Schüler fingen an mitzumachen und grenzten Sofie aus.

Die 13-Jährige, die ihre Eltern als ruhiges und intelligentes Mädchen beschreiben, suchte den Fehler bei sich. "Am Ende der Ferien hatte sie Angst, in die Schule zurückzukehren. Das Lernen fällt ihr zunehmend schwer. Sie verliert ihre Lebensfreude", erzählt die Tiroler Kinderpsychologin Simone Fröch. Es ist ein Fall, der exemplarisch für viele Kinder und Jugendliche in Österreich steht – und auf eine gröbere Misslage hinweist.

Anstieg von Mobbing im Netz

Was Sofie und laut Studien jedes fünfte Schulkind in Österreich nämlich eint, sind Erfahrungen mit Mobbing. Darunter fallen etwa das systematische Bloßstellen und Ausschließen "Auserwählter" aus einer Gruppe, das Verbreiten von Gerüchten und verbale Attacken. Was sich einst am Pausenhof oder im Schulgang abspielte, hat sich in den vergangenen Jahren zusehends auch im digitalen Raum ausgebreitet.

"In Zeiten der Covid-Lockdowns ist das Cybermobbing durch die Decke geschossen", sagte der Kinderpsychiater Helmut Krönke kürzlich auf Ö1. Von einem starken Anstieg bei Anfragen verzweifelter Eltern, deren Kinder gemobbt werden, berichtet auch Psychologin Fröch im STANDARD-Gespräch. Mit weitreichenden Folgen für Betroffene: Diese reichen von Schlafstörungen über Depressionen bis hin zu Suizidgedanken. Was steckt hinter diesen Dynamiken? Und: Wie kann es sein, dass manche Kinder Mobbing offenbar immer noch schutzlos ausgeliefert sind?

Gemobbte Kinder neigen zu Mobbing

Jemand, der sich seit Jahrzehnten mit diesem Phänomen beschäftigt, ist Bildungspsychologin Christiane Spiel von der Universität Wien. Eine simple Erklärung, wieso ein Kind ein anderes mobbt, gebe es nicht; der Bereitschaft liege meist ein Ursachenmix zugrunde, sagt Spiel im STANDARD-Gespräch. "Oft handelt es sich bei den Mobbern selbst um Opfer." Durchlebte Gewalterfahrungen in Familie oder Schule würden diese oft "weitergegeben". Mobbing kann aber auch die Folge eines Gefühls der Unzulänglichkeit sein. "Wenn Kinder in der Schule nur Misserfolge haben, dann führt das oft dazu, dass sie das System Schule ablehnen." Während sich manche zurückziehen, führe das bei anderen zu Gewaltbereitschaft und Mobbing.

Und wohin das in letzter Instanz führt, das zeigten zuletzt Zahlen aus Wien. Hier und in der Steiermark etwa sind die Zahlen bei Schulsuspendierungen und Anzeigen im Kontext der Schule im Vergleich zu den Vor-Corona-Jahren massiv in die Höhe gegangen. DER STANDARD berichtete.

Eine einfache Unterteilung in Täter und Opfer gebe es allerdings nicht, sagt Spiel mit Verweis auf die Studienlage. "Alle in der Klasse sind beteiligt. Wenn ein Kind wegschaut, dann unterstützt es schon den Täter oder die Täterin." Doch auch an den Schulen selbst mangle es oft an Wissen, wie mit Mobbing umgegangen werden soll. Manche Mitschüler und Lehrkräfte greifen bei Mobbing ein, andere hingegen nicht. "Diese Inkonsistenz bestärkt die mobbenden Kinder", sagt die Expertin – weil diese keine klaren Regeln vorfänden.

Physisches Mobbing und Cybermobbing gehen zumeist Hand in Hand, es seien dieselben Täter, sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel.
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Leitfäden ohne Wirkung

Das mag überraschen: Sucht man nach Informationen zu Mobbing an Schulen, stößt man auf etliche Leitfäden, darunter einen ausführlichen des Ministeriums. "Doch wie viele Schulen setzen ihn wie um?", fragt Spiel. Vor zehn Jahren habe es auch schon verpflichtende Verhaltensvereinbarungen an Schulen gegeben. "Doch wenn es kein Monitoring gibt, besteht die Gefahr, dass sie in Vergessenheit geraten." So geschehen an den Schulen, mit denen Psychologin Simone Fröch zu tun hat: Sofie habe sich etwa von ihrem Lehrer anhören müssen, dass sie "nicht so empfindlich" sein solle. Ein Junge, der sich nach Beleidigungen seines "Freundes" hilfesuchend an seinen Lehrer wandte, wurde mit den Worten "Das müsst ihr euch schon selber ausmachen" vertröstet. Viele Direktionen würden auf Anfrage der Eltern auch einfach behaupten, dass es an ihrer Schule kein Mobbing gebe. "So oder so ähnlich wird das Problem bagatellisiert und verleugnet", sagt Fröch.

Was es daher wirklich brauche, seien Präventionsprogramme; etliche Studien belegten deren Wirksamkeit, sagt Bildungspsychologin Spiel. Im Rahmen dieser Programme kämen auch Rollenspiele zum Einsatz. "So wird es den Schulkindern ermöglicht, etwa in die Rolle des Opfers zu schlüpfen und eine andere Perspektive einzunehmen."

Rechtliche Möglichkeiten, sich zu wehren, gebe es, sagt Sebastian Öhner von der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft. In erster Instanz können sich Betroffene bei der Schuldirektion beschweren, in zweiter bei der Bildungsdirektion. Sobald Mobbing die Grenze zum Strafrecht überschreitet, sind Anzeigen bei der Polizei möglich. Das wäre etwa bei Körperverletzungen, Stalking, Beleidigungen und seit 2016 auch bei Cybermobbing der Fall. "Abseits der rechtlichen Möglichkeiten sehen wir aber, dass es zu wenig Schulsozialarbeit gibt", sagt Öhner. Vor Ort könnte diese eine wichtige Moderationsrolle einnehmen.

Hohe Dunkelziffer bei mobbenden Lehrkräften

Wie wichtig das wäre, zeigt sich auch dort, wo Machtpositionen ausgenutzt werden. "Auch wenn Mobbing einen Gipfel im Jugendalter hat, wird es auch von Erwachsenen ausgeübt", sagt Spiel. Hier dürfte die Mobbingdunkelziffer besonders hoch sein. Begünstigt werde das durch den Umstand, dass die Erwachsenen oft in einer Machtposition sind, als Eltern oder Lehrpersonen, und die Opfer daher lange schweigen. Das gilt aber generell für Opfer: Sie holen sich zumeist erst sehr spät Hilfe. In der Schule wäre es daher aus Sicht von Spiel wichtig, die Rolle der Klassensprecherinnen zu stärken und die Schulleitungen zu sensibilisieren. Der Grundsatz, dass keine Gewalt an Schulen geduldet wird, müsse im Zentrum stehen. (Elisa Tomaselli, Jakob Pflügl, 28.2.2023)