Die Nähe zu den gesammelten Wälzern treibt Studierende nur mehr selten in die Unibibliotheken. Dicke Skripten wurden in den letzten Jahren durch hochgeladene PDF-Folien auf Onlinelernplattformen abgelöst, Fachlexika gibt es digital und jene Professoren, die ihre Seminarliteratur in zerfledderten Handapparaten in der Institutsbibliothek verstauen, ereilt nach und nach die Pension. Selbst in den traditionell buchaffinen Geisteswissenschaften kann man heute quellenreiche Abschlussarbeiten verfassen, ohne ein einziges Mal zur Ausleihe in die liebevoll "Bib" genannten Wissenstempel zu pilgern.
Dennoch ist die Attraktivität der Bibliothek als Ort des Lesens, Lernens und Schreibens ungebrochen. An Sonntagen in Prüfungsphasen bildet sich auf dem Heldenplatz vor der Nationalbibliothek schon eine halbe Stunde vor der Öffnung eine Schlange von Studierenden, die sich einen der begehrten Plätze sichern wollen.
Beengte Wohnung, teures Kaffeehaus
In der modernen Bibliothek der Wiener Wirtschaftsuni (WU) ist der Ansturm in den Stoßzeiten so groß, dass auf Drängen der lokalen ÖH nur die eigenen Studierenden hineingelassen werden, während externe draußen bleiben müssen. Auch in den städtischen Büchereien sind freie Lernplätze eine Rarität: "Wenn man bei uns irgendwo einen neuen Tisch hinstellt, ist er sofort mit Schülerinnen, Schülern oder Studierenden besetzt", erzählt Bernhard Pöckl, Leiter der Büchereien Wien.
Die Motive für den Zustrom sind naheliegend: "In meinem kleinen Zimmer im Wohnheim fühlt es sich sehr beengt an, im Winter ist es eher düster, und im Sommersemester oft zu warm und stickig", sagt etwa Philosophiestudent Max. Zwar hätten auch Kaffeehäuser ihren Charme, meint der 22-Jährige, doch Preise von fast fünf Euro pro Melange könne er mit seinem knappen Budget auf Dauer nicht stemmen.
Die Bibliotheken punkten aber nicht nur mit weitgehend kostenfreiem Zugang, sondern auch durch den Schutz vor Ablenkung. Wer wegen lärmender Mitbewohner, schreiender Geschwister oder aufleuchtender Smartphones zur gedanklichen Abschweifung neigt, lernt Lesesäle als Oasen konzentrierter Arbeitsatmosphäre schätzen.
Probleme am Sonntag und abends
Allein: Nicht immer, wenn man sie braucht, haben die Bibliotheken geöffnet. Das trifft Frühaufsteher ebenso wie Nachteulen, die gerne noch am späteren Abend in Ruhe lernen wollen. Auch erwerbstätige Studierende, die sich an arbeitsfreien Wochenenden den liegengebliebenen Seminararbeiten widmen möchten, klagen über fehlendes Angebot. Der altehrwürdige Lesesaal im Hauptgebäude der Uni Wien hat an Sonntagen überhaupt geschlossen, unter der Woche ist er von neun bis 22 Uhr geöffnet – ähnlich ist die Situation an der WU. Auch die Zweigstellen der städtischen Büchereien sind am späteren Abend und Wochenende – mit Ausnahme der samstags offenen Hauptbücherei – geschlossen.
In derlei Phasen herrschen in der Hauptstadt Engpässe an passenden Plätzen. So haben zwar neben der Nationalbibliothek auch Lesesäle der Technischen Uni und des Museums für angewandte Kunst (MAK) am Wochenende untertags offen, sind dann aber regelmäßig restlos voll.
24/7-Modell in Klagenfurt
Studierendenvertreter verschiedener Couleur fordern deshalb eine Ausweitung der Öffnungszeiten, manche sogar einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb – als Vorbilder dafür gelten gemeinhin skandinavische Unistädte. Doch wie realistisch ist die 24/7-Forderung? Tatsächlich muss man gar nicht in die Ferne schweifen, um ein Beispiel für eine permanent geöffnete Bib zu finden.
An der Uni Klagenfurt gibt es das bereits seit mehr als einem Jahrzehnt: Mit dem elektronischen Bibliotheksausweis gelangt man jederzeit in Bibliothek und Lesesaal, das automatisierte Leihsystem und Scanner sind ebenfalls rund um die Uhr zugänglich. Vor allem am frühen Morgen und bis Mitternacht werde das Angebot rege genutzt, erklärt eine Unisprecherin auf STANDARD-Anfrage. Zudem habe sich die ursprüngliche Befürchtung, dass in der nächtlichen Abwesenheit der Bibliotheksmitarbeiter Bücher oder Medien verschwinden, nicht bewahrheitet.
Das Wachpersonal des Gebäudes absolviere in der Nacht Kontrollgänge durch den Lesesaal, man brauche aber keine zusätzlichen Leute. Gegenwärtig mache der Uni allerdings die Energiekrise zu schaffen, weshalb man in diesem Winter als Sparmaßnahme ausnahmsweise die Bibliothek von null bis sechs Uhr zusperre. Ab April werde die Bibliothek wieder in den etablierten 24/7-Modus zurückkehren, kündigt die Sprecherin an.
Positive Bilanz in Linz
Auch an der Uni Linz bewertet man die Erfahrungen mit einer 2016 eingerichteten 24/7-Lernzone im Foyer der Hauptbibliothek positiv. Probleme seien bisher ausgeblieben und die Zone werde "hervorragend genutzt". An den Randzeiten ist kein Bibliothekspersonal vor Ort, die nur mit Uni-Zugangskarte betretbare Fläche wird "echtzeitüberwacht". Das heißt: Der Portier sieht über Video, was in der Zone passiert, es wird aber keine Aufzeichnung gespeichert.
Stellt sich die Frage: Was spricht eigentlich in Wien, wo allein doppelt so viele Studierende leben wie Einwohner in Klagenfurt, gegen die Umsetzung von 24/7-Bibliotheken? Von der Uni Wien heißt es, dass die aktuellen Öffnungszeiten "unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und der Nachfrage der Nutzer*innen" festgelegt seien, für eine Verlängerung in die Nacht hinein sehe man kaum Bedarf. Zugleich verweist die Uni auf den anstehenden Umbau der Hauptbibliothek samt Auslagerung von Büchern in ein externes Depot. Dadurch könne man einen vom restlichen Gebäude abgetrennten Benützungsbereich mit Studierzonen schaffen, für den "ganz neue Möglichkeiten bei den Öffnungszeiten" entstehen sollen.
Geldfrage und Nachfrage
Die WU führt vor allem finanzielle Erwägungen gegen einen Sonntags- und Nachtbetrieb ins Treffen. Allein für Strom, Heizung, Reinigung und Wasser sei mit 3000 Euro pro Tag zu rechnen. Überdies würden zusätzliche Kosten für Sicherheits- und Bibliothekspersonal anfallen, zumal die WU-Bibliothek, die sich über sechs Ebenen erstreckt, aufgrund der architektonischen Gegebenheiten nicht auf einen verkleinerten "Nachtlernort" einschränkbar sei. Abseits der Prüfungswochen sei ohnehin keine veritable Auslastung der Bib zu den Randzeiten erwartbar, erklärt die Unisprecherin.
Die ÖH der WU sieht das anders, wie Konstantin Steiner von der Aktionsgemeinschaft dem STANDARD sagt. Er ortet intensive studentische Wünsche nach generell längeren Öffnungszeiten, gesteht aber zu: "Da die Betriebskosten im vergangenen Jahr massiv gestiegenen sind, ist eine Einlösung der Forderung durch das Rektorat unwahrscheinlicher geworden."
Pilotprojekt und Pläne
Die städtischen Büchereien sind im Unterschied zu den großteils innerstädtisch geballten Unibibliotheken geografisch breiter gestreut und winken daher mit kürzeren Anfahrtswegen. Auch sie spüren ein Bedürfnis der Jungen nach ruhigen Lernplätzen zu den Randzeiten, sagt Leiter Bernhard Pöckl. In den nächsten Jahren wolle man Angebote unter dem Schlagwort "Open Library" ausbauen, in der Seestadt Aspern wird seit kurzem schon ein Pilotprojekt dazu getestet: "Man kann sich den Zutrittsmodus vorstellen wie bei einem Bankfoyer, wo man mit einer Karte auch außerhalb der regulären Öffnungszeiten hineinkommt." Drinnen gibt es aber die üblichen Arbeitsplätze, Medien und Ressourcen zum Recherchieren – Mitarbeiter für Hilfe und Beratung sind zu den Randzeiten aber nicht da.
"Um ohne Personal für Sicherheit zu sorgen und Problemen vorzubeugen, ist in diesen Bereichen eine Videoüberwachung notwendig", erklärt Pöckl. Technische Umsetzung, zusätzliche Reinigung und Nachsortierung gehen freilich ins Geld, der Ausbau des Open-Library-Modells wird daher laut Pöckl schrittweise über die Bühne gehen. Klar sei aber: "Das Thema wird für Bibliotheken immer wichtiger, an einer Ausweitung von Lernzonen und Öffnungszeiten führt kein Weg vorbei." (Theo Anders, 3.3.2023)