Sein Respekt, schrieb mein Bruder, halte sich in Grenzen. Schließlich hätten wir es hier ja leichter: "Bei 0,16 g kann jeder laufen." Denn die Bilder in der Familien-Whatsapp-Gruppe würden, "ganz eindeutig", von anderswo stammen: "Die Frage ist nur: Wieso braucht ihr auf dem Mond keine Raumanzüge?"

Abgesehen davon würden die Bilder aber ihren Zweck erfüllen. Sehr gut sogar: "Früher hast immerhin noch für alle, die du mit sowas neidig machen wollest, in Ansichtskarten und Marken investieren müssen. Heute kostet das nix – und funktioniert noch besser. Irgendwie fies."

Foto: Tom Rottenberg

Stimmt: Während der Semesterferien hatte ich ja selbst überlegt, Angehörige, Freunde und Freundinnen oder Kolleginnen zu "defrienden", wenn sie mich mit Ski- oder Skitourenbilder überschütteten. Tat ich natürlich nicht. Stattdessen rächte ich mich letztes Wochenende umso grausamer. Mit Lauffotos aus Gran Canaria. Auch wenn mein Bruder – und einige andere Leute – ätzte, dass es auf den karstigen Kanaren doch aussehe "wie auf dem Mond".

Jo eh. Aber: "mission accomplished" – denn der Neid ist ein Hund.

Foto: Tom Rottenberg

Dass so ein Trip mit dem Urlaubsnarrativ der Bilder nicht wirklich viel zu tun hat, ist da egal. Und Jammern auf allerhöchstem Niveau: Natürlich ist so ein "Abstecher" megaleiwand. Was bei den Bildern aber nie dabeisteht: Solche Reisen sind meist ultrakurz – und dienstlich. Vollgepackt mit Interviews und Präsentationen.

Und schon auf der Heimreise tippt man gegen Abgabefristen, Deadlines und das Veröffentlichungstempo des geschlossen angetretenen europäischen Laufmedienmitbewerbes an. Sieht keiner, interessiert auch keine: Trotzdem ist das Arbeit. Und zum Teil auch zach.

Foto: Tom Rottenberg

Denn wenn Brooks, einer der großen Player der Laufschuhwelt, zum "Trail Summit" und zur Präsentation einer Trail-Kollektion lädt, sagt niemand – egal ob "Runner’s World", "Laufen", "xc-run.de" aus Deutschland oder Schwestermagazine und -plattformen von sonst wo – Nein.

Foto: Tom Rottenberg

Nicht nur, weil die 1914 gegründete Schuhmarke aus Seattle in dieser Szene wichtig ist: Die Chance, von vor Ort auch vom "Transgrancanaria" (TGC), einem der legendärsten Ultraläufe Europas, zu berichten, lässt kein Medium, das halbwegs bei Trost ist, ungenutzt verstreichen.

Schon gar nicht, wenn da mit Scott Jurek auch ein echter Säulenheiliger, ein Idol der Ultralaufszene als Keynote-Speaker und Gesprächspartner (im Bild: im Interview mit der deutschen "Runner's World"), mit dabei ist: Wenn der (u. a.) siebenfache Sieger des "Western State" auf der Kanareninsel danach auf einen Kaffee geht, erkennen ihn auch Radfahrer und Wanderer – und wollen Selfies und Autogramme: Jureks Bücher über Veganismus und Sport sind globale Bestseller.

Foto: Tom Rottenberg

Auch wenn der TGC ein Traum vieler Trail- und Ultraläuferinnen und -läufer ist, auch wenn die Betreiber von Wiens traditionsreichstem Laufshop (Tony’s) hier jedes Jahr zum Laufurlaub anreisen, steht Gran Canaria sportlich eher fürs Rennradfahren.

Das merkt man schon im Flieger: Der ist zur Hälfte mit Pensionistinnen und Pensionisten, zu einem Viertel mit Familien mit nichtschulpflichtigen (oder irgendwie "befreiten" Kindern) und zu einem Viertel Radfahrerinnen und Radfahrern besetzt – aber knackevoll. Barbara Tesar, die Grazer Siegerin des Austria-Extrem-Triathlons, TV-Moderatorin und Veranstalterin der "Istria Bike"-Radcamps in Kroatien, fliegt ebenso auf Trainingscamp wie mutmaßlich "ziviler" fahrende Gruppen, Vereine und Freundeskreise. Das entspricht in etwa auch dem touristischen Mix hier.

Foto: Tom Rottenberg

Ich war auch schon einige Male hier. Zum Radfahren. Das geht hier nicht nur wegen der Infrastruktur (die bekanntesten Radverleihe sind einst von Österreichern gegründet worden) und frostschadenfreien Straßen super, sondern auch, weil Radfahrende hier auch auf der engsten Bergstraße respektiert werden. Nicht zuletzt, weil in Spanien das Überholen von Radlern mit weniger als 1,5 Meter Seitenabstand streng geahndet wird: Der "Spaß" kostet 1.500 Euro. Und das, erzählt ein spanischstämmiger Journalist auf dem Lauftrip, nicht nur theoretisch. "Das wirkt. Alles andere nicht."

Aber auch wenn der Blick auf die Traumserpentinen Lust aufs Radfahren macht: Deshalb sind wir nicht hier.

Foto: Tom Rottenberg

Laufen also. Trail laufen, um genau zu sein. Das, erklären die Gastgeber, wird immer mehr zur Königsklasse des Laufens. Oder dem, wovon immer mehr Läuferinnen und Läufer träumen: weg vom Asphalt – näher an die Natur. Und damit auch näher zu jenem Traum von Authentizität und heiler Welt, den man sich vom Laufen erwartet und erhofft.

Außerdem ist Trail ein Megamarkt – der wächst: Ironman-CEO Andrew Messick, in diesem Kontext unverdächtig, wird mit einem Satz über jährlich zweistellige Trailzuwächse während der letzten Jahrzehnte zitiert.

Brooks selbst spricht von einem 70-Prozent-Trailwachstum 2021. Und die Trend- und Marktforschung prognostiziert, dass 2025 über ein Drittel des Laufmarktes unter dem Etikett "Trail" laufen wird.

Foto: Tom Rottenberg

Dass Trailschuhe demnach das am schnellsten zulegende Segment im Laufschuhmarkt sind, ist schlüssig: In Deutschland kletterte laut Brooks der Geländeschlapfenanteil von 18 Prozent 2018 auf 22 im Jahr 2022. In Frankreich sogar von 25 Prozent auf 35.

Österreich spielt in solchen globalen Spielen keine separate Rolle: Tatsächlich kann man – fast überall – von gleichen, heute kaum mehr zeitversetzten Entwicklungen wie in Deutschland ausgehen. Zahlen? Wir sind meist "Ein-Zehntel-Deutschland". In der großen Welt der Markenkommunikation geht es aber eh primär um Räume: Wir sind gemeinsam DACH.

Foto: Tom Rottenberg

Das Abholen regionaler Zielgruppen hat natürlich dennoch zentrale Bedeutung: in "muttersprachlichen" Social-Media-Auftritten (Facebook läuft nur noch nebenbei mit) ebenso wie in Community-Arbeit mit Läuferinnen und Läufern.

Bei Brooks sind das "Run happy"-Events und -Touren, die mehrmals im Jahr auch in Österreich Station machen. Darüber hinaus gibt es gesponserte Spitzenathletinnen und -athleten und mit Blickrichtung auf den Trailnachwuchs eine eigene Trailakademie. Dort werden junge Läuferinnen und Läufer – von 15 bis 20 Jahren – gezielt gesucht und gefördert.

Foto: Tom Rottenberg

Relevant sind da, auch bei den "Erwachsenen", neben Alter Potenzial und Talentquoten. Schon wegen der Identifikation zwischen Zielgruppe und Marke. Geschlecht zählt da ebenso wie Region. Aus dem DACH-Raum kommen deshalb zehn der 49 Läuferinnen und Läufer des Markenteams.

Und weil kaum jemand Schuhe, aber jeder und jede "apparel" ("Bekleidung" sagt heute niemand mehr) sieht, rückt Gewand immer mehr in den Fokus. Nicht nur bei Brooks: Das ist fast überall so.

Trail ist da ein bisserl wie Freeriden, also Tiefschneeskifahren: Weil Ausrüstung im rauen "Draußen" tatsächlich mehr können muss als auf der Straße, spielt sie eine größere Rolle. Sie erzählt aber auch die Geschichte von Wild- und Freiheit. Und an der wollen viele Straßenläuferinnen und -läufer anknüpfen: Es geht – auch – um die gefühlte Ermächtigung: "Wir könnten. Jederzeit."

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich wird dieses Spiel bei allen anderen Brands auch so – oder ähnlich – gespielt. Und natürlich auch dort der kommunizierend-multiplizierenden Welt mit Events und Einladungen vorgesetzt. Neben fröhlich-lockeren "Testläufen" sind dann sonst meist hart bis gar nicht zu ergatternde Startplätze bei diversen Bewerben oft auch dabei.

Was Brooks da beim TGC mit der – im Übrigen: ersten – eigenen Trailkollektion und den aktuellen Trailschuhen vorzeigte, kann man bei anderen Veranstaltungen bei Mitbewerbern ebenso mitverfolgen. Beim UTMB, dem wohl prestigeträchtigsten und größten Ultratrailbewerb rund um den Montblanc, sind dann meist alle Marken gleichzeitig mit Journalisten und Social-Media-Starlets vor Ort.

Foto: Tom Rottenberg

Und: No na kommen sie alle. Weil ja auch die anderen alle kommen: Im hart und härter umkämpften Markt um Leserinnen und Leser sowie Zugriffe kann es sich niemand leisten, Mitbewerber A, B und C mit authentischen Vor-Ort-Reportagen Punkte sammeln zu lassen – und selbst nur eine Agenturmeldung zu haben.

Weil nämlich auch jene Leserinnen und Leser, die dann so unbequeme wie legitime Fragen nach Nachhaltigkeit oder Klima stellen, lieber, öfter und verlässlicher dort hinklicken oder lesen, wo ihnen mehr als der Text der PR-Agentur geboten wird. Und wo niemand hinschaut, inseriert dann auch niemand.

Foto: Tom Rottenberg

Das wissen alle. Auch, dass Fach-, Special-Interest- und "normale" Medien es sich seit Jahren nicht mehr leisten könnten, Schreiberinnen oder Schreiber auf eigene Kosten irgendwohin zu schicken (nicht nur um zu laufen). Und die – meist frei arbeitenden – Kolleginnen und Kollegen, die dann losgeschickt werden, brauchen Aufträge: Wer dreimal Nein sagt, ist seine Auftraggeber los. Und zwar richtig nachhaltig.

Das gilt für Jobs, die dann ziemlich viel Spaß machen und bei denen man beruflich das tut, was man liebt, genauso wie für weniger erbauliche und erfüllende Aufgaben. Miete und Co müssen halt blöderweise trotzdem gezahlt werden.

Foto: Tom Rottenberg

Dass das ein Dilemma ist, war allen 150 Nasen vor Ort klar. Wir sind ja weder blöd noch blind. Und natürlich sind die knackevollen Flieger, die im Fünf-Minuten-Takt auf "GC" landen, ein Thema.

Genauso wie die ungebremste Hotel- und Ferienimmobiliebautätigkeit, das supersatte Grün der immer mehr werdenden Golfplätze inmitten der karstigen Mondlandschaft (die ja einst bewaldet war, bis die Spanier für ihre Armada die Kanaren abholzten) – und das Absinken der Pegel in den Speicherseen im Bergland: Den Wasserspeicher, bei dem Brooks – etwa bei Kilometer 31 des TGC-Halbdistanz-Rennens – einen "Cheering Point" eingerichtet hatte, kenne ich. Dass da weniger Wasser drin ist als bei meinem letzten Besuch, bestätigte ein lokaler Wirt: "Desaster. But without tourism we are dead, too."

Foto: Tom Rottenberg

Das Dilemma, betonte auch Carson Caprara, sei ihm bewusst. Patentantworten, so der Vizepräsident der Schuhdivision bei Brooks, habe aber weder er noch sonst jemand in der Branche. Laufen im Allgemeinen und Traillaufen im Besonderen, sagt Caprara, lebten nicht nur vom Traum und der Sehnsucht nach gesunder Bewegung in einer gesunden Umwelt, sie befeuerten die Sehnsucht danach sogar noch. Und dann will man hin.

Traumtrails wie der TGC sind ein Ziel, das Menschen Beine macht. Nicht nur denen, die den Bewerb "können", auch zigtausend anderen: Bei unserem "Cheering Point" kamen einige Trailtouristenpaare vorbei, die den Bewerb als Anlass für einen Laufurlaub ohne Rennteilnahme nutzten: "Das nur zu sehen ist Teil eines Traums. Andere machen eben Wanderurlaub."

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Genau um diese Gefühle, sagt Caprara, gehe es. Um Vielfalt und Unterschiede, die spür- und erlebbar zu machen sind: Laufen und der Traum vom Naturerlebnis "draußen" lassen sich über Zoom-Konferenzen nicht vermitteln. Weder Medienmenschen noch dem Publikum. Caprara: "Wir wollen Menschen zum Laufen bringen, dafür müssen wir Laufen spürbar machen."

Natürlich suche er bei "seiner" Hardware nach sauberen und Zero-Emission-Produktions- und -Herstellungszyklen. Sowohl bei Kleidung als auch bei Schuhen gehe etwas weiter. "Still a way to go, but not impossible."

Debatten und der Druck der Konsumentinnen und Konsumenten seien legitim und wichtig – gleichzeitig müsse öffentlicher wie politischer Druck aber bei den richtigen Adressaten landen: "Wir stellen Laufschuhe her, nicht Flugzeuge."

Foto: Tom Rottenberg

Einfache Antworten, betonte auch Scott Jurek, gingen oft nicht tief genug. Weil Träume, Sehnsüchte und Ziele den Menschen ausmachten. Weil jeder und jede das Recht habe, sie wahr zu machen. Oder es zu versuchen.

Allein Jureks Namen triggert Laufträume: Der 1973 geborene US-Amerikaner ist eine der Legenden des Ultra- und Traillaufes. Hat gewonnen, was es zu gewinnen gibt und erzählt seither in Büchern und Vorträgen davon. Auf Gran Canaria tat er das auch. Sprach über "Western State", "Badwater" – und Veganismus.

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Also über Träume, Hoffnung, Verzweiflung – und Möglichkeiten. Darüber, wie nahe das beisammenliegt – und wie einfach das pauschale Nein alles "löst".

Jureks Ansatz ist spannender. Schwieriger. Komplex. Manchmal, oft, widersprüchlich – und nie eine gerade Linie.

So wie Traillaufen eben. (Tom Rottenberg, 1.3.23)

(Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Der Trip nach Gran Canaria war eine Einladung von Brooks an große Special-Interest-Laufmagazine und -Plattformen. Tom Rottenberg war für "Laufen" und "laufen.de" dort.)


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