Das erste Kennenlernen: Mutter und Kind nach einem Kaiserschnitt.

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Marion* ist spät und unverhofft schwanger geworden, ihre Freude ist groß. Sie liegt lange in den Wehen, fühlt sich im Kreißsaal aber bestens betreut. Das ändert sich mit dem Schichtwechsel schlagartig. Während Marion auf dem Rücken liegt, spreizen zwei Geburtshelferinnen ihre Beine. "Der Oberarzt hat sich auf meinen Bauch geschmissen, hat geschoben und gedrückt", sagt sie. "Da hat es einen Moment gegeben, wo ich mir nicht sicher war, ob ich das überlebe." Auf diese Weise kommt ihr Kind zur Welt.

Was Marion erlebt, ist der Kristeller-Handgriff. Es ist ein umstrittenes Manöver, die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt den Handgriff nicht. In Großbritannien ist er verboten. Zu groß sind die Risiken für die Mutter und das Ungeborene, wenn er nicht sachgemäß durchgeführt wird. In der korrekten Ausführung tasten Geburtshelfer zunächst die Bauchdecke der Mutter nach dem Steiß des Kindes ab. Dann üben sie mit der flachen Hand Druck darauf aus, um das Kind im Rhythmus der Wehen nach unten zu schieben.

Doch bei unzureichender Aufklärung kann das Kristellern als absoluter Kontrollverlust erlebt werden. So erzählt es auch Sandra*. Beinahe zwei Tage Wehen hat sie bereits hinter sich, als die Ärztin beschließt, den Handgriff anzuwenden. Sie kündigt an, dass sie "ein bisschen mithilft", für Sandra klingt es harmlos. "In Wirklichkeit hat sie sich hinter mich gestellt und mit voller Wucht auf meinen Bauch gepresst." Der gewünschte Geburtsfortschritt bleibt aus. "Noch eine Ärztin ist gekommen, die mir die Saugglocke reingerammt hat. Ich habe es reißen gehört und gespürt. Ratsch. In diesem Moment habe ich sogar gesagt: Jetzt ist alles gerissen." Noch einmal wird kristellert, dann kommt das Kind auf die Welt.

Das globale Phänomen

Rund 85.000 Frauen gebären in Österreich pro Jahr. Zwei Drittel der Kinder kommen vaginal, ein Drittel per Kaiserschnitt zur Welt. Österreich ist ein sicheres Land für Mütter und ihre Babys, die Kindersterblichkeit ist niedrig. Im Jahr 2021 verstarben 0,55 Prozent aller Lebendgeborenen binnen einer Woche nach ihrer Geburt. Laut den Vereinten Nationen schneidet Österreich damit knapp besser ab als der EU-weite Durchschnitt. Dass Mütter unter der Geburt versterben, kommt noch seltener vor. Doch es gibt Erfahrungen im Kreißsaal, die in keiner Statistik erfasst werden.

Einer in vier Ländern des Globalen Südens durchgeführten Studie zufolge machten 42 Prozent der befragten Frauen unter der Geburt Gewalterfahrungen. Für Industrienationen liegt nur eine Studie aus den USA vor. Dort gaben knapp über 17 Prozent der Gebärenden an, Gewalt erlebt zu haben. Für Österreich gibt es keine Zahlen.

Die WHO führt Gewalt in der Geburtshilfe als globales Schwerpunktthema und zählt körperliche Misshandlungen, Demütigungen und Beschimpfungen dazu. Auch Vernachlässigung der Gebärenden und Eingriffe ohne Einwilligung gelten als Gewalt. Gesprochen wird darüber meist nur untereinander, in geschlossenen Facebook-Gruppen oder im Freundinnenkreis. Das Thema bleibt für viele ein blinder Fleck. Der STANDARD hat darum Betroffene gebeten, ihre Geschichten zu teilen. Knapp 20 Frauen meldeten sich, drei von ihnen schildern in diesem Text ihre Erlebnisse.

Zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe fehlt es an Forschung und einer internationalen Definition.
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Marion und Sandra bemerken in den Tagen nach der Geburt, dass ihre Körper ihnen nicht mehr gehorchen. "Ich hatte keine Kontrolle über meine Beine, und mir ist eines aus dem Bett gefallen", sagt Marion. Die Bettkante drückt ihr Bein ab, sie kann es nicht hochziehen. "Ich konnte nur schreien, weil es so wehgetan hat." Tagelang stürzt Marion jedes Mal, wenn sie aufstehen möchte.

Sandra hat enorme Schmerzen um ihr Steißbein, unter ihrem Nabel ist alles taub. Aufs Klo zu gehen ist unmöglich. Als Sandra versucht, darauf hinzuweisen, bekommt sie einen Katheter und wird vertröstet. "Sie haben gesagt, das ist bei allen Frauen so, ich müsse da jetzt halt auch durch. Aber den anderen Frauen im Krankenhaus ging es nicht wie mir." Nach drei Tagen wird sie entlassen. Weder Sandra noch Marion werden vor Ort untersucht.

Weinend unter dem Wickeltisch

Erst nach einigen Tagen zeigt ein Röntgenbild schließlich, dass Marion eine schwere und sehr seltene Verletzung ihres Beckens erlitten hat. Sie vermutet deren Ursache im heftigen Druck durch das Kristellern. Die Zeit nach der Geburt ist schwer für sie. "Ich hatte einen Rollator und ein neugeborenes Kind", sagt Marion. Ihre Beziehung zerbricht an den körperlichen und psychischen Folgen der Geburt. Eineinhalb Jahre lang muss sie einen Gurt tragen, der ihr Becken zusammenhält. Die Auswirkungen der Verletzung spürt sie noch immer. Mit ihrem Kind um die Wette laufen oder auf dem Trampolin springen kann sie nicht.

"Schon wieder liegt man mit gespreizten Beinen da, schon wieder ist da Blut."

- Sandra

Bei Sandra diagnostiziert ein Arzt kurz nach dem Krankenhausaufenthalt einen Kreuzbeinbruch. Außerdem wurde die Dammnaht zu eng vernäht. Sie muss geöffnet und noch einmal gesetzt werden. "Schon wieder liegt man mit gespreizten Beinen da, schon wieder ist da Blut, schon wieder schneidet da irgendwer irgendwas", sagt Sandra. Doch ihre Schmerzen bleiben. "Ich war beim Proktologen, Gynäkologen, Schmerzspezialisten und in der Ambulanz. Ich war schon so verzweifelt."

Schließlich stellt eine Physiotherapeutin bei Sandra eine Schädigung des Schamnervs fest – wohl durch die Saugglocke bei der Geburt. Im Jahr danach kämpft sie mit andauernder Nervosität, Angst und Appetitlosigkeit. Die psychische Belastung wird beinahe unerträglich. "Ich bin weinend unter dem Wickeltisch gelegen und habe meinem Freund gesagt: Du musst die Rettung rufen. Ich kann mich nicht um mein Kind kümmern."

Gesunde Mutter, gesundes Kind

Die Fälle von Marion und Sandra sind extrem. Wird der Kristeller-Handgriff angewandt, muss er korrekt erfolgen. "Ich habe da schon alles gesehen", sagt die Grazer Hebamme Agnes Maier. "Mit der Faust, mit dem Unterarm, den Ellbogen. Da kann man irrsinnig viel Kraft aufwenden. So kann es ja nur wehtun, und so ist es auch nicht vorgesehen."

Zudem muss die Gebärende darüber informiert werden, was nun geschieht – und warum. "Vor jedem medizinischen Eingriff ist die Einwilligung der Patientin einzuholen", sagt Maria Kletečka-Pulker. Sie ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien. Umfassende Aufklärung ist in Akutsituationen aber oft nicht möglich. "Man sagt etwa: Es geht Ihrem Kind gerade schlecht, die Herztöne sind schlecht. Ich werde mich jetzt da hinsetzen und auf Ihren Bauch drücken. Bitte helfen Sie mit, so gut Sie können", sagt Mirijam Hall, Assistenzärztin der Gynäkologie und Geburtshilfe an der Klinik Ottakring.

Eine Geburt ist ein schwer planbares Ereignis, Akutsituationen erfordern schnelles Eingreifen.
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Auf ihrer Station wird der Handgriff angewandt, wenn eine Geburt schon weit fortgeschritten ist, wenn sich die Herztöne eines Kindes verschlechtern. "Das ist manchmal schneller, als in den OP zu fahren und einen Kaiserschnitt zu machen." Denn befände sich das Kind bereits tief im Geburtskanal, müsse es für einen Kaiserschnitt wieder hochgeschoben werden. Stattdessen wird auf ihrer Station in solchen Situationen kristellert, während zeitgleich eine Saugglocke zum Einsatz kommt. "Das ist etwas, das man nicht aus Jux und Tollerei macht. Aber es ist etwas, das Hirnmasse beim Kind retten kann", sagt Hall. Dass Mütter wie Marion und Sandra dabei verletzt werden, ist nicht die Regel.

Geburtshelfer sind stets für beide verantwortlich – Mutter und Kind. Mit Beginn der Eröffnungswehen ist das Baby nach österreichischem Gesetz eine volle Rechtsperson. "Die Gebärende kann deswegen nur so weit autonom entscheiden, als es dem Kind nicht schadet", so Kletečka-Pulker.

Die vernachlässigte Gewaltform

Damit Interventionen bei der Mutter keine psychischen Spuren hinterlassen, braucht es gute Kommunikation. "Dieses Nichtwissen, diese Unsicherheit macht extreme Angst", sagt Kletečka-Pulker. So sieht es auch die Hebamme Agnes Maier. "Wenn ich einer Frau nicht zuhöre und ihr das Gefühl gebe, sie ist mir ausgeliefert, dann ist das eine psychische Gewaltform, die total vernachlässigt wird."

Das hat auch Elisabeth* erlebt. Das Klinikpersonal reißt die werdende Mutter plötzlich aus dem Schlaf. Es sei ein Kaiserschnitt notwendig, jetzt müsse alles schnell gehen. Für die Operation wird die Betäubung erhöht. Doch Elisabeth kann ihre Zehen noch spüren und bewegen. Während sie zum Operationssaal gebracht wird, weist sie mehrfach darauf hin. Immer wieder wird ihr versichert, dass sie trotzdem nichts fühlen werde.

Knapp ein Drittel aller Neugeborenen in Österreich kommt per Kaiserschnitt zur Welt.
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"Dann war ich im OP, und ich habe gespürt, wie sie mich auf der Bauchdecke desinfizieren", sagt Elisabeth. Danach fühlt sie ein Zwicken. Wieder spricht sie an, was sie gespürt hat, wieder wird sie beruhigt. "Da habe ich mir gedacht: jetzt oder nie", erzählt Elisabeth. Sie beginnt zu schreien, um sich Gehör zu verschaffen, und wird daraufhin in Vollnarkose versetzt. Als sie wieder wach wird, bringt man sie zurück in den Kreißsaal. "Da war dann mein Baby. Frisch gebadet und wie aus dem Ei gepellt."

Nach der Geburt erkrankt Elisabeth an Depressionen. Sie hätte die Geburt und die ersten Stunden des Lebens ihres Kindes gerne miterlebt. In bewussten Ritualen versucht sie, die Bindungszeit nachzuholen. Heute ist sie als Doula tätig, eine nicht medizinisch ausgebildete Begleiterin, die werdende Mütter während der Schwangerschaft, Geburt und im Wochenbett umsorgt und unterstützt. Ihre eigene Geschichte erzählt sie ihnen nicht.

Mängel im System

Marion, Sandra und Elisabeth hätten sich sicherer gefühlt, hätten sie durchgängig dieselbe Hebamme an ihrer Seite gehabt. Auch von der WHO wird die 1:1-Betreuung empfohlen. Doch der Druck im Gesundheitssystem ist hoch, oft ist eine Hebamme für mehrere Gebärende gleichzeitig verantwortlich. Diese Lücke schließen sogenannte Beleghebammen. Sie sind freiberuflich tätig, haben Verträge mit Kliniken oder der Krankenkasse abgeschlossen und begleiten die Frauen während der Schwangerschaft, Geburt und Nachsorge.

Auch ein Geburtsplan kann hilfreich sein. Darin können Schwangere festhalten, welche Maßnahmen und Eingriffe sie ablehnen oder bevorzugen. Verweigern können Patientinnen und Patienten grundsätzlich jede Behandlung. Wünsche sind nur im Rahmen der Ressourcen des Krankenhauses möglich. Anders als eine Operation bleibt eine Geburt aber immer schwer planbar. Im Zweifel kann man darum bitten, dass ein weiterer Arzt hinzugezogen wird. "Grundsätzlich hat man auch das Recht, dass Eingriffe dokumentiert werden", so Kletečka-Pulker. Diesen Geburtsbericht können sich Gebärende später aushändigen lassen. Sollte er lückenhaft sein, kann man noch vor Ort anfordern, dass fehlende Behandlungen nachträglich dokumentiert werden.

Freude über das wohlbehaltene Baby, Trauer über das Erlebte: Die Aufarbeitung einer traumatischen Geburt ist schwierig.
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Reden als Reinigung

Haben Mütter das Gefühl, unter der Geburt Gewalt erfahren zu haben, können sie sich in einem ersten Schritt bei der jeweiligen Einrichtung melden. So macht es Elisabeth: In einem Brief schildert sie ihre Erfahrungen unter der Geburt, die Kritik wird daraufhin mit dem betroffenen Personal besprochen. Dieses Wissen hilft Elisabeth, ihre Erfahrung zu verarbeiten. Auch für das Gesundheitspersonal ist eine Rückmeldung wichtig. "Das ist eine Selbstreinigungskraft und Qualitätssicherung der Berufsgruppe", sagt Kletečka-Pulker.

Auch ein direktes Gespräch ist möglich. "Die Berechtigung, was eine Frau als Gewalt empfunden hat, kann man ihr nicht absprechen und soll man auch nicht", sagt Assistenzärztin Hall. Wichtig sei zu sehen, was die Frau brauche, um mit der Situation gut abzuschließen.

Gute Geburt durch Geld

Auf der Suche nach einer Erklärung für ihre Schmerzen hat Sandra ihr gesamtes Erspartes ausgegeben. "Das summiert sich: ein Buch hier, eine Behandlung da, mehrere Therapien. Mein finanzielles Polster ist aufgebraucht." Besonders geholfen hat ihr eine Traumatherapie. Sandra hat auch Freunde und Familie, die sie unterstützen. Ihre Situation bezeichnet sie als privilegiert. "Was macht jemand, der nicht so ein Glück hat? Das war ja auch alles privat zu bezahlen. Wer kann sich das denn leisten?"

Viele Mütter werden nach traumatischen Geburten mit dem Hinweis getröstet, dass sie ein gesundes Kind im Arm halten. Jede der Betroffenen ist dankbar für ihr wohlbehaltenes Baby. Doch spricht man nur davon, geraten die psychischen und körperlichen Narben der Mutter in Vergessenheit. Kletečka-Pulker schlägt daher eine andere Sichtweise vor: "Das Kind hat ein Recht auf eine glückliche Mutter." (Helene Dallinger und Ricarda Opis, 1.4.2023)