Dass sie Privatinteressen als Arbeit deklarieren kann, findet Olga Grjasnowa einzigartig am Schreibberuf. An österreichischen Autoren findet sie den Humor gut.

Foto: Valeria Mitelman

Wien findet Olga Grjasnowa schön. Immer wieder war sie schon für Lesungen hier, drei Semester hat sie bereits Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst unterrichtet. Sie sei aber immer noch "komplett planlos", wenn es darum geht, sich in der Stadt zu orientieren. Letztens sei sie plötzlich auf der Autobahn gelandet. Sicher wird sie sich bald besser auskennen. Denn heute startet Grjasnowa als Professorin am Institut für Sprachkunst der Angewandten, sie folgt Autorin Monika Rinck nach.

Seit 2009 gibt es den Studiengang, Autorinnen und Autoren wie Raphaela Edelbauer, Tonio Schachinger oder Sandra Gugić haben ihn seither absolviert. Auch Michael Marco Fitzthum, Frontmann der Band Wanda, hat hier das Handwerk für seine Texte gelernt. Rund 15 Studierende wurden zuletzt pro Jahr zum Bachelor-, ähnlich viele zum Masterstudium zugelassen. Die Zahl der Bewerbungen steigt rasant, auch Interessenten aus Deutschland und der Schweiz bewerben sich für einen Platz in Wien. Vorige Woche hat Grjasnowa jene mit ausgewählt, die sie in den nächsten Jahren im Einzelunterricht betreuen wird. Wie die Bewerber waren? Sie hat sehr gute Bewerbungen erlebt. Viel Lyrik war darunter.

Grjasnowa ist 1984 in Baku geboren, mit Russisch aufgewachsen. Mit elf Jahren kam sie nach dem Zerfall der Sowjetunion aus Aserbaidschan mit ihren Eltern nach Deutschland. "Die Scham, fehlerhaftes Deutsch zu sprechen, hat sich tief in mich eingeschrieben", erinnert sie sich im Essay Die Macht der Mehrsprachigkeit (2021) an die Zeit. Inzwischen ist Deutsch ihre fließendste Sprache, sie schreibt nur auf Deutsch. Denkt sie dabei manchmal auf Russisch? Nein. Vier Romane hat sie bisher veröffentlicht. Kritiker loben die rasante Erzählweise und reiche Handlung.

Viel unterwegs

Grjasnowa kennt alle Seiten des Schreibschulbetriebs, sie war Studentin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und als Gastprofessorin in den USA oder der Schweiz. Wien sei eine sehr gute Adresse. Fürs Bewerbungsgespräch ist sie aus New York eingeflogen. Es hat sich gelohnt, sie ist für fünf Jahre berufen. Im Sommer wird Grjasnowa mit ihrem Mann und beiden Kindern, fünf und sieben Jahre alt, ganz nach Wien ziehen.

Grjasnowas Aufgabe ist die "Internationalisierung" des Instituts. Was kann man sich darunter vorstellen? Sie will Kooperationen mit Schreibinstituten in den USA, Kanada, Dänemark oder einem Literaturfestival in Bangladesch aufbauen. Grjasnowas Interesse am Thema rührt aus ihrer eigenen Praxis. Viele Schreibprozesse, glaubt sie, wären bei ihr ohne Unterwegssein nicht angestoßen worden. "Schreiben ist etwas, wozu ich mich zwingen muss", sagt Grjasnowa, "ich bin froh, wenn es vorbei ist." Recherche hingegen mache ihr Spaß, sie hätte früher auch Journalistin werden wollen. Immer noch versucht sie, große Recherchereisen zu machen, um Orte, Leute und Stoffe zu entdecken. Schon während ihres Studiums war sie viel unterwegs.

Autobiografische Anlässe

Etwa fünf Monate auf Austausch in Moskau. "Das Studium dort war nicht großartig, aber Moskau war wichtig, um Themen, die mich beschäftigen, aus anderer Perspektive zu erfassen", sagt sie mit Blick auf ihr Debüt Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) über eine jüdische Aserbaidschanerin, die einst als Immigrantin nach Deutschland gekommen ist. Vieles darin erinnert an ihre Biografie.

Seither hat sie von einer Tänzerin am Bolschoi und der Liebe (Die juristische Unschärfe einer Ehe) oder von der nach Europa geflüchteten Syrerin Amal (Gott ist nicht schüchtern) erzählt. So räumlich oder zeitlich fern manche Geschichten scheinen: Es gibt hinter jeder einen autobiografischen Anlass, auch wenn die Geschichte, die letztlich herauskommt, doch ganz anders sei. Grjasnowas Mann etwa ist Syrer. Und die Familie ihres Vaters sei einst aus Abenteuerlust nach Baku gekommen – dieses Verhältnis des russischen Imperiums zu den Republiken habe sie bei Der verlorene Sohn interessiert. Das nächste Buch wird vom Holocaust auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion handeln. Denn Grjasnowas jüdische Großmutter wurde vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht aus Belarus nach Russland evakuiert. Es soll 2024 erscheinen.

Vorfreude auf Leselisten

Geht sich Schreiben neben der neuen Aufgabe noch aus? Ist sie mit 38 Jahren nicht zu jung, um so viel Zeit, in der sie schreiben könnte, dem Unterricht zu widmen? Das sieht sie nicht so. Es sei ja nicht nur das Schreiben, von dem Autoren leben, sondern auch Lesungen und Auftragsarbeiten. Beides sei nicht gut mit Familie vereinbar, beides könne sie nun reduzieren. Was interessiert sie am Unterrichten? "Die Art, wie Texte besprochen werden. Ich werde sehr eng mit den Studierenden an deren Projekten arbeiten, Recherchen anregen, Referenztexte empfehlen. Ich liebe lange Leselisten. Die Texte, an denen wir arbeiten, werden manchmal im nächsten Jahr, manchmal erst in zehn veröffentlicht werden. Man bespricht Prozesse." Worum es beim Schreiben geht? "Darum, etwas ganz anderes zu schaffen, alle Regeln zu brechen." Was macht einen Text gut? "Immer etwas anderes. Man weiß aber sofort, wenn ein Text gut ist. Auch wenn man es nicht immer gut begründen kann." Sie unterrichtet ohne eine fixe Poetik.

Mit dem Vorwurf, dass Schreibschulen allzu marktgängige Prosa hervorbrächten, kann sie nichts anfangen. "Klar ist es schön, wenn große Kunst passiert, und es ist auch mein Anspruch. Aber es gibt viele Dinge, die wir alle genießen, ohne dass sie große Kunst sind. Ich hätte nichts dagegen, Fifty Shades of Grey zu schreiben, wenn ich das ganze Geld verdienen würde." Doch seien die eigenen Interessen am wichtigsten. Immerhin arbeite man an einem Buch drei, vier Jahre. Würde es dann nicht ausdrücken, was man sagen wollte, wäre das nicht durchzuhalten, glaubt die Autorin.

Und noch zu Russland: Literatur habe dort zwar einen hohen Stellenwert, es gebe aber nur ein herrschendes Narrativ des Russischseins, schränkt sie ein. "Das ist gefährlich. Deshalb wundert man sich in Russland nämlich, dass die Ukraine überhaupt eine eigene Kultur sein könnte." Es sei eine wichtige Frage, welche Geschichten eine Gesellschaft zulasse. Produktionsseitig habe Literatur jedenfalls einen großen Vorteil: "Sie ist billig herzustellen. Man braucht nur Zeit und einen schlechten Computer. Man kann es wagen." Das sollte ihre Studierenden optimistisch stimmen. (Michael Wurmitzer, 1.3.2023)