Österreichs Frauen-Nationalteam holte im Februar Silber bei der Hockey-WM.

Foto: ÖHV | reach Guys

Der Schock sitzt tief. Der Ärger ist groß. Die geplante Einstellung von ORF Sport Plus erzürnt die österreichische Sportwelt. Seit der dementsprechenden Ankündigung von ORF-Generaldirektor Roland Weißmann folgten wöchentliche Protestnoten verschiedener Sportverbände, von Eishockey bis Tennis, von Sports Media Austria, der Vereinigung österreichischer Sportjournalistinnen und Sportjournalisten, bis zur Bundessportorganisation Sport Austria. Tenor: Der Spartenkanal sei unverzichtbar für Randsportarten.

Aber warum gilt ein Sender, dessen durchschnittliche Tagesreichweite 2022 bei 236.000 Zuschauern lag, als so essenziell für die heimische Sportwelt? Zumal Weißmann ja ankündigte, die Randsportarten künftig auf ORF 1 "transferieren" oder digital per Streaming anbieten zu wollen. Ersteres dürfte nur schwer aufgehen, wie eine STANDARD-Auswertung der Fernsehprogramme auf ORF Sport Plus und auf ORF 1 zwischen 22. Jänner und 21. Februar 2023 zeigt. Vor allem im linearen Fernsehen droht ein Verlust an Vielfalt, der etwa den Behindertensport treffen könnte. Ein mögliches Streamingangebot könnte indes vor allem eine Chance beim jungen Publikum sein.

Sieben Live-Sportarten auf ORF 1, mehr als 20 auf ORF Sport Plus

Einen Unterschied zwischen beiden Sendern gibt das ORF-Gesetz vor. Laut Paragraf 4b, Absatz eins ist der Spartenkanal nur "nach Maßgabe der wirtschaftlichen Tragbarkeit" zu führen. Er soll unter anderem "das Verständnis des Publikums für weniger bekannte Sportarten und ihre Ausübungsregeln fördern". Absatz vier nominiert indes, dass sogenannte "Premium-Sportbewerbe" dort eben nicht live gezeigt werden dürfen, dazu zählen etwa die Fußball-Bundesliga oder Ski-Rennen. Wie wirkt sich das nun auf das Programm aus?

ORF 1 hat nicht 24/7 Platz für Sport und konzentriert sich daher im Live-Programm eher auf Publikumsmagneten. Die Nummer eins im Untersuchungszeitraum: rund 85 Stunden Ski-Berichterstattung live. Die Pistenraserei ist ein Fixpunkt im Programm. Noch mehr, wenn wie im Februar eine Weltmeisterschaft stattfindet mit einem regelmäßigen abendlichen WM-Studio. Dazu gesellen sich die üblichen Verdächtigen wie Skispringen (1.687 Minuten), Biathlon (1.005) und König Fußball (806).

Während das Flaggschiff in den 30 Tagen sieben Sportarten live übertragen hat, wartet ORF Sport Plus mit deutlich größerer Artenvielfalt auf. Mehr als 20 Sportarten durften sich auf dem Spartenkanal über Live-Berichte freuen. Rodeln (1.572) und Tennis (1.460 / Davis Cup und WTA-Turnier in Linz) führen das Ranking an.

Anzumerken ist, dass der Untersuchungszeitraum besonders sportintensiv war. Das liegt einerseits an Großereignissen (Ski-WM, Para-Ski-WM, Biathlon-WM). Andererseits gehört der Februar zur Übergangsperiode, in der Wintersportarten in die Zielgerade einbiegen und Sommersportarten langsam wieder loslegen.

Hockey- und Rodelerfolge

Ein paar Auffälligkeiten: Die Bühne ORF 1 bringt freilich höhere Zuschauerquoten, ist aber nicht gleichbedeutend mit rot-weiß-roten Erfolgsaussichten. Österreichs Hallenhockey-Männer wurden Mitte Februar Weltmeister, die ÖHV-Frauen holten Silber. Alle Spiele waren zu sehen auf ORF Sport Plus. Dito im Rodellager: Der Sportverband ist traditionell ein verlässlicher Medaillenbringer. Wer Weltcup und WM (sieben ÖRV-Medaillen) sehen wollte, war auf dem Spartenkanal gut aufgehoben.

Natürlich: Wer erfolgreich ist, hat kein Anrecht auf TV-Präsenz. Aber man muss sich im Klaren sein: TV-Präsenz gilt als Erfolgsfaktor. Das bestätigte zuletzt auch die ehemalige Ski-Behindertensportlerin Claudia Lösch dem STANDARD. Das TV sei wichtig für Sponsoren, sagte die zweifache Paralympics-Goldmedaillengewinnerin. "Aber auch weil du als Sportart in der öffentlichen Wahrnehmung präsent bist. Dadurch können junge Menschen motiviert werden, entweder mit einer Sportart anzufangen oder dabeizubleiben, weil sie sehen, was sich da alles erreichen lässt. Beim Behindertensport kommt noch der gesamtgesellschaftliche Aspekt dazu. Es ist generell wichtig, dass Menschen mit Behinderung zu sehen sind."

Behindertensport

Und Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung waren mehrheitlich auf ORF Sport Plus zu sehen. Während der Behindertensport im besagten Zeitraum auf ORF 1 kein einziges Mal live und 204 Minuten in aufgezeichneter Form übertragen wurde, gab’s auf dem Spartenkanal mehr als 20 Stunden Sendefläche, davon rund zwölf live. Hauptverantwortlich dafür zeichnete die Para-Ski-WM. Zudem hat ORF Sport Plus mit "Ohne Grenzen" ein eigenes Behindertensportmagazin. Mit der Junioren-Ski-WM wurde im Untersuchungszeitraum auch der Nachwuchssport gecovert.

Für die ehemalige Behindertensportlerin Claudia Lösch ist ORF Sport Plus wichtig für Sponsoren und den Nachwuchs.
Foto: APA/EVA MANHART

Frauen

Das Doppel zwischen ORF 1 und ORF Sport Plus wirkt sich auch auf die Gender-Balance aus. Diese hinkt in der Sportberichterstattung, wie etwa eine Studie vom Verein Exploristas gezeigt hat. Frauen seien klar "unterrepräsentiert", hieß es damals. "Gute Leistungen von Frauen reichen oft nicht aus." Auch dafür bieten die 30 Tage im ORF-Programm ein passendes Beispiel: Skispringen. Jene der Männer sind Fixanker auf ORF 1. Jene der Frauen, die mit Eva Pinkelnig eine österreichische Gesamtweltcupführende stellen, nicht unbedingt. Manche Bewerbe mussten oder konnten auf ORF Sport Plus ausweichen.

Wir halten fest: ORF Sport Plus lebt (Sport-)Artenvielfalt und verschafft Randsportarten TV-Präsenz. Nun wird der Spartenkanal eingestellt. Und ein Reflex in der öffentlichen Diskussion lautet: "Na und? Der ORF kann ja dann einfach das Sportprogramm von ORF Sport Plus auf ORF 1 senden! Statt der ganzen US-Serien." Generaldirektor Weißmann sagte ebenfalls, dass das zumindest teilweise passieren soll. Wie groß die Schnittmenge zwischen jenen Sehern und Seherinnen ist, die das als guten Plan sehen, und jenen, die sich zuvor bereits laufend beschwert haben, dass ORF 1 zu viel Sport überträgt, ist nicht bekannt.

Sport vs. Sport am Wochenende

Auf den ersten Blick klingt die Idee plausibel. Auf den zweiten ist verständlich, warum der Plan vor allem Randsportarten Bauchweh bereitet. Denn: Wie soll sich das ausgehen?

Der meiste Sport spielt sich am Wochenende ab. Dementsprechend sieht die Statistik von ORF Sport Plus aus: Werktags wird nur wenig live übertragen, weil die Sportwelt an diesen Tagen nun mal größtenteils ruht. Am Montag um 10 Uhr findet eben im Normalfall kein sportliches Schmankerl statt. Profis trainieren, Amateure gehen vielleicht ihrem Brotberuf nach. Der Spartenkanal überbrückt diese Zeiten mit Übertragungen älterer Tage – und ja, das kann dann eben manchmal auch ein Formel-1-Rennen der 1970er sein. Am Samstag und Sonntag widmet sich dafür bis zu 32 Prozent des Tagesprogramms dem Live-Sport.

Diese Live-Schichten kann man aber schwer auf ORF 1 transferieren, denn auch der große Bruder überträgt bereits jetzt am Wochenende laufend Sport. Zwischen 22. Jänner und 21. Februar 2023 praktisch ständig von Vormittag bis frühen Abend, am Sonntag sogar noch intensiver.

Der 11. Februar bietet dafür ein konkretes Beispiel:

In der Theorie mag es sich also gut anhören, wenn US-Serien, die in den letzten Jahren zum Synonym für sämtliche ORF-Kritik geworden sind, künftig durch Sportberichterstattung ersetzt werden sollen. In der Praxis ist aber vor allem am Wochenende zu befürchten, dass sich der Sport kannibalisiert und damit insgesamt weniger Sport im linearen Fernsehen zu sehen sein wird – zulasten der Randsportarten. Denn vorsichtig ausgedrückt dürfte ein Skirennen wohl bessere Übertragungschancen haben als ein Bobbewerb. Und unter der Woche?

"Willkommen Österreich" oder Handball?

Auch hier hätten sich Sport-Livesendungen vom Spartenkanal teils mit anderen Sportberichten auf ORF 1 überschnitten, vor allem am Freitag. Beispiel 27. Jänner: ORF Sport Plus übertrug stundenlang Langlaufen und die Rodel-WM live, ORF 1 parallel die Nordische Kombination und Skispringen. Manchmal kreuzten "Big Bang Theory", "Gilmore Girls", "Modern Family" und Co den Weg, etwa am Montag, 6. Februar am Nachmittag mit einer Hallenhockey-Partie der österreichischen Frauen. Andere Male waren österreichische Produktionen die Konkurrenz: So duellierten sich am Dienstag, 7. Februar im Hauptabendprogramm Alpla Hards Match im Handball-Europacup mit "Soko Linz" und "Willkommen Österreich." Auch unter der Woche wäre es zu vereinfachend zu sagen, dass der Sport dann eben den Sendeplatz von US-Serien bekommen soll.

Auch Handball wird auf ORF Sport Plus gezeigt. Im Bild: Karolis Antanavicius (HC Alpla Hard/rechts) gegen Fabian Posch (UHK Krems),
Foto: APA/DIENER / EVA MANHART

An dieser Stelle wird gerne eingeworfen: Der ORF Sport könnte ja die Vor- und Nachberichterstattung einschränken. Das würde aber einerseits meist nur zeitliche Peanuts bringen, und andererseits gehört die Vor- und Nachspeise zu einem qualitätsvollen Menü dazu. Stellen Sie sich das dramatische Formel-1-Finale 2021 vor: Max Verstappen überholt Lewis Hamilton in der allerletzten Runde beim Grand Prix vom Abu Dhabi und holt so noch sensationell den WM-Titel. Und anstatt Stimmen einzuholen oder den Regel-Wahnsinn zu analysieren, muss ORF-Kommentator Ernst Hausleitner zu einem anderen Sportbewerb schalten. Schwer vorstellbar.

Lineares Fernsehen vs. Streaming

Es soll noch einen zweiten Rettungsanker für das bisherige Programm auf ORF Sport Plus geben: Wenn für einen Bewerb kein Platz auf ORF 1 ist, soll künftig vermehrt Streaming eine alternative Sendefläche bieten. Dieser Plan bietet durchaus Chancen, aber auch Fragezeichen.

Eine Frage ist, wie viele Zuseher und Zuseherinnen Randsportarten via Streaming im Vergleich zum linearen Fernsehen überhaupt erwarten dürften. Dabei hilft ein Blick auf die Bewegtbildstudie 2022. Darin untersuchen RTR Medien und die Arbeitsgemeinschaft Teletest seit 2016 jährlich das Medienverhalten in Österreich. Im Vorjahr setzte sich der Abwärtstrend für das lineare Fernsehen fort. Sein Anteil des täglichen Bewegtbildkonsums lag 2022 bei 65 Prozent, 2016 noch bei 83,2 Prozent.

Das Streaming (dazu zählen in dieser Bewegtbildstudie Videoportale wie Youtube und Twitch, soziale Medien wie Facebook und Twitter sowie Plattformen wie Netflix und Amazon Prime) konnte sich im selben Zeitraum von 7,8 auf 20,8 Prozent steigern. Rechnet man dazu noch Livestream-TV (Onlineübertragung von TV-Inhalten, die zeitgleich zum gezeigten TV-Programm zur Verfügung stehen) und On-demand-TV (TV-Inhalte, die zu jeder beliebigen Zeit online abgerufen werden können und nicht zeitgleich zum gezeigten TV-Programm stattfinden, zum Beispiel via Mediathek eines TV-Senders), verstärkt sich dieser Effekt.

Für den Sport ebenfalls relevant: Streaming ist vor allem in der jungen Zielgruppe beliebt. Bei den Menschen von 14 bis 29 hat Streaming TV längst überholt. 49 zu 30,5 Prozent steht es hier.

Der TV-Marktanteil (also ohne Streaming und ohne TVthek-Nutzung) von ORF Sport Plus im Jahresschnitt 2022 lag beim Fernsehpublikum ab zwölf Jahren bei 0,4 Prozent. Auch wenn man beim Vergleich solcher Zahlen vorsichtig sein muss: Für Randsportarten bietet Streaming durchaus eine Chance, neues Publikum oder gar Athleten und Athletinnen zu gewinnen. Zumal Streaming ja das Paradebeispiel dafür ist, mehrere Sportarten gleichzeitig anbieten zu können.

Für Streaming ohne Rundfunk-Ausstrahlung braucht der ORF grundsätzlich ein neues ORF-Gesetz – an dem gerade verhandelt wird. Der ORF dürfte mehr Möglichkeiten im Streaming bekommen. Offen ist, ob und wann eine größere Streamingplattform für Breitensport aufgebaut werden kann.

Live-Premiumsport ist beliebt

Fest steht, dass Sport auch weiterhin eine relevante Rolle in der Programmgestaltung spielen wird. Der öffentlich-rechtliche Kernauftrag sieht in Paragraf vier des ORF-Gesetzes "umfassende Information der Allgemeinheit über alle wichtigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Fragen" sowie "die Förderung des Interesses der Bevölkerung an aktiver sportlicher Betätigung" vor. Das Angebot habe sich "an der Vielfalt der Interessen aller Hörer und Seher zu orientieren und sie ausgewogen zu berücksichtigen".

Live-Sport zieht nach wie vor im linearen Fernsehen. Das beweist der jährliche Blick auf die reichweitenstärksten Sendungen im ORF. 2022 gehörten sechs Sportsendungen zu den Top Ten – freilich allesamt keine Randsportarten, sondern dem Premiumsport zuzurechnen, der auf ORF Sport Plus nicht live übertragen werden darf.

Ungewisse Zukunft

Wie es nun mit den Randsportarten weitergehen wird, ist offen. Der Handball-Bund fühlte sich zuletzt "vor den Kopf gestoßen". Sport-Austria-Präsident Hans Niessl warnte vor einem "konzeptlosen Streichen". Weil beim Streaming noch die finanziellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen offen sind, sei es "für den Sport wichtig, dass ORF Sport Plus zumindest bis zum Abschluss des Digitalisierungsausbaus, der ja noch Jahre dauern kann, als Plattform erhalten bleibt", erklärte Burgenlands früherer Landeshauptmann. Sport Austria hat Weißmann aufgefordert, bis 9. März ein Konzept zu präsentieren, wie es mit dem Sport im ORF weitergehen soll.

Toni Innauer sagte unlängst dem STANDARD: "Wir nennen uns ein bisschen Sportnation, obwohl die Kriterien fehlen, wie man das definieren soll, aber das wäre ein echtes Kriterium. Dass man sagen kann, der Sport hat eine Bedeutung über die Sportarten hinaus, die im Business ein großes Kaliber sind." Vor allem Randsportarten fürchten, dass es um sie in naher TV-Zukunft ruhiger wird. Sozusagen: Silent Sports. So heißt übrigens eine Sendung – auf ORF Sport Plus. (Andreas Gstaltmeyr, Michael Matzenberger, 10.3.2023)