Ob gehörnter Fisch oder langer Eckzahn: Um die Entstehung des Einhorn-Mythos ranken sich viele Theorien.

Im Prunksaal der Nationalbibliothek ist derzeit ein kleines Büchlein aus dem 17. Jahrhundert ausgestellt. Es wurde vom dänischen Naturforscher Thomas Bartholin verfasst und trägt den Titel "De unicornu observationes novae: Neue Beobachtungen über das Einhorn". In dem mittig aufgeschlagenen Buch sieht man die Zeichnung eines Fisches, dem ein Fortsatz aus der Stirn wächst. Um die Bedeutung von Bartholins Schrift und den Zusammenhang zwischen diesem Fisch und dem beliebten gehuften Fabelwesen zu verstehen, müssen wir etwas ausholen – etwas mehr zwei Jahrtausende.

"In Indien gibt es wilde Esel, die den Pferden gleich, nur größer sind; der Leib ist weiß, der Kopf purpurrot, die Augen dunkelblau; auf der Stirn haben sie ein Horn von der Länge einer Elle." Mit dieser Beschreibung schuf der griechische Arzt Ktesias von Knidos circa 500 Jahre vor Christus die erste Version jenes Fantasiewesens, das sich abertausende Male in Kunst, Religion, Natur- und Kulturwissenschaft und in die Popkultur einschreiben sollte.

Gehörntes Fabelwesen

Es steht für das Gute und Reine, oft für Jesus Christus – oder für das genaue Gegenteil. Das biblische Einhorn habe eine "gut-böse Doppelidentität", schreibt Jochen Hörisch, Literaturwissenschafter und Unicornologe. Wie kam das Einhorn in die Bibel? Durch einen Übersetzungsfehler: Aus dem Hebräischen "re’em", was ein gehörntes oder generell ungezähmtes Tier meinte, wurde im Lateinischen "monoceros" oder "unicornus". Martin Luther sprach in seiner deutschen Übertragung des Alten Testaments vom "Einhorn".

Das Einhorn war aber von Anfang an auch Ressource. Schon Ktesias bemerkte: "Ihr Fleisch kann wegen seiner Bitterkeit nicht genossen werden. Man jagt sie nur der Hörner und Sprungbeine wegen." Das zahlt sich aber aus, denn: "Das Horn als Trunk oder Becher schützt vor Vergiftung und Krankheit." Auch bei Hildegard von Bingen finden sich Rezepte: "Wenn man aber die Leber des Einhorns pulverisiert und dieses schmalzige Pulver mit Eigelb mischt, so erhält man eine Salbe, die bei häufigem Gebrauch jede Art von Aussatz heilt."

Universales Heilmittel

Einhornhorn wurde seit der Spätantike und bis ins 17. Jahrhundert als medizinisches Universalmittel eingesetzt – und es war sehr teuer. Was aber tranken, schnupften und schmierten die Gnädigen, wenn ihnen der Leibarzt Einhornhornpulver verschrieb? Von Nashornhorn bis Mammutknochen dürfte alles dabei gewesen sein.

Wenn die Einhornhörner im Ganzen gehandelt wurden, erwartete man sich bald – geschult von Beschreibungen und Zeichnungen sowie Ausstellungen in Wunderkammern – ein gerades, schraubenförmiges Horn, das einige Meter lang sein konnte. Wie sich später herausstellte, handelt es sich hierbei gar nicht um ein Horn, sondern um einen Zahn, nämlich um den meist linken Eckzahn des männlichen Monodon monoceros, des Narwals.

Mystische Meereslebewesen

Hier kommen wir zurück zu Thomas Bartholin, dem es gelang darzulegen, dass es sich beim Einhorn nicht um ein gehuftes Landtier, sondern um ein "unicornu marinum", ein Meereslebewesen, handelte. "Ich finde es gut zu zeigen, dass Wissenschaft auch schon damals Fragen gestellt und Mythen widerlegt hat", sagt Solveigh Rumpf-Dorner, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Nationalbibliothek. Oft würden solche Schriften – diese ist aus dem Jahr 1678 – allein als Kuriositäten rezipiert.

Der Fisch, der in Bartholins Schrift zu sehen ist, soll im Übrigen keinen Narwal darstellen, erklärt Rumpf-Dorner – was ihn gleich weniger kurios wirken lässt. Es handelt sich um einen Fisch aus südlicheren Gewässern. In dem Buch dient er der Argumentation, dass solche Stirnwüchse anatomisch möglich seien.

Apropos anatomische Einhorn-Möglichkeiten: Frank Zachos, der unweit der Nationalbibliothek, im Naturhistorischen Museum Wien, die Säugetiersammlung leitet, interessiert sich für Taxonomie, also der systematischen Einteilung der Arten, und für Tiere, denen harte Gebilde aus dem Kopf wachsen. Das macht ihn zu einem sehr interessanten Gesprächspartner in puncto Einhornspekulationen: "Geweihe kommen nur bei Hirschen vor. Klassisches Horn kommt nur bei Rinderartigen vor. Wenn das Einhorn pferdeähnlich ist, muss es sich um einen ausgewachsenen Zahn handeln."

Gehörnter Fisch aus südlichen Gewässern (De Unicornu Observationes Novae, ONB, *69.J.20).
Foto: Österreichische Nationalbibliothek

Verblüffender Hirscheber

Welches heute lebende Tier käme da ungefähr heran? Frank Zachos nennt eine Art aus der Familie der Schweine: die Hirscheber oder Babirusa. Ihre riesigen, gebogenen Hauer wachsen anders als bei den uns geläufigen Wildschweinen nicht aus dem Mund, sondern aus dem Kiefer geradewegs nach oben. "Und wenn das nicht zwei wären, sondern einer … dann wäre das Ergebnis so nahe, wie man einem Einhorn biologisch kommen könnte."

Aus naturkundlicher Sicht liegt noch eine andere, traurigere Parallele nahe: Das Nashorn, das dem mythologischen Einhorn unzweifelhaft auch Modell stand, wird heute noch wegen der angeblichen Wunderwirkungen seines Horns gejagt und ist stark bedroht. Übrigens wurde auch das vermeintliche Einhornhornpulver, das seit der Antike kursierte, auch nach der Schrift von Bartholin und der endgültigen Einsicht, dass es sich um einen Walzahn handelt, noch lange eingesetzt. Erst allmählich löste sich die Medizin von dem Aberglauben.

Das Einhorn wurde damit aber freilich nicht entzaubert. Man kann es pragmatisch halten mit Christian Morgenstern: "Das Einhorn lebt von Ort zu Ort / nur noch als Wirtshaus fort." Aber man braucht nur in Bücher, Filme, Kunst oder ins nächste Gewand- oder Bastelbedarfsgeschäft schauen, um zu sehen, dass das Einhorn nach wie vor gefeiert wird. Es ist Symbol für "alle Liebe zum Nicht-Erwiesenen, Nicht-Greifbaren", wie es Rainer Maria Rilke formulierte, der einige Zeilen an "O dieses Tier, das es nicht gibt" schrieb. Zum Beispiel: "Sie nährten es mit keinem Korn, / nur immer mit der Möglichkeit, es sei." (Julia Grillmayr, 4.3.2023)