Zentrale des Chemiekonzerns BASF, eines der weltweit wichtigsten, im deutschen Ludwigshafen: Wird es so etwas in Europa künftig noch geben?

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Wirtschaftsminister Martin Kocher warnt ebenso davor wie die deutsche Kanzlerpartei SPD und die österreichische Industriellenvereinigung: Wegen der massiv gestiegenen Energiepreise und der großzügigen Unternehmenshilfen, die in den USA und China verteilt werden, bestehe die Gefahr, dass die Industrie aus Europa verschwindet. Ist die Sorge berechtigt?

Ja, die Gefahr droht. Im internationalen Wettbewerb um die Zukunft der Industrie hat die EU schlechte Karten. Die Energiepreise sind infolge des Ukrainekriegs und der Sanktionen gegen Russland in die Höhe geschossen wie nie zuvor. Das erhöht die Kosten für Unternehmen, vor allem für energieintensive – und das schwächt sie gegenüber ihren internationalen Konkurrenten. Im Vergleich zu den USA etwa bezahlen Unternehmen in Europa derzeit ungefähr fünfmal mehr für Strom und siebenmal mehr für Gas.

Zwar sind die Energiepreise in der EU mittlerweile wieder niedriger als vergangenen Sommer, als sie historische Höchstwerte erreichten. Dennoch, Fachleute sind sich weitgehend einig: Es wird niemals mehr so billig wie vor dem Ukrainekrieg.

Was etwa die Gasversorgung betrifft, wird die EU langfristig auf mehr Flüssigerdgas (LNG) umschwenken. Dieses ist teurer als (vornehmlich russisches) Pipelinegas, denn es muss auf Schiffen transportiert und vor Gebrauch verflüssigt werden. Bisweilen kostet LNG deshalb doppelt so viel wie Pipelinegas.

Zurückbleiben in Energiefragen

Die anderen beiden großen ökonomischen Blöcke der Welt – die USA und China – sind in Sachen Energieversorgung weit besser aufgestellt als die EU: die USA, weil sie viel eigene Energie produzieren und allein schon aufgrund ihrer geografischen Lage weniger abhängig von Russland sind als die Europäer. China wiederum hat es unter anderem deshalb leichter, weil es zunehmend billige russische Energie importiert.

Doch die Energie ist nicht das einzige Problem der EU. Darüber hinaus lockt auch noch die Konkurrenz in Washington, D.C. und Peking Unternehmen mit massiven Subventionen. China fördert Betriebsansiedlungen seit langem mit einem System vielfältiger – und völlig undurchsichtiger – Unterstützungszahlungen. Die USA wiederum haben im Sommer ihren Inflation Reduction Act (IRA) beschlossen, der in den kommenden zehn Jahren mindestens 400 Milliarden Dollar Steuergeld zu Unterstützung grüner und klimafreundlicher Industrien vorsieht. Freilich nur, wenn die dazugehörigen Produkte auch in den USA hergestellt werden.

Man mag an dieser Stelle einwenden, dass es in der EU durchaus Initiativen gibt, den Abwerbeoffensiven aus den USA und China etwas entgegenzusetzen. So plant die EU-Kommission einen "Green-Deal-Industrieplan", in dessen Rahmen hohe Subventionen an europäische Unternehmen aus grünen Bereichen fließen sollen. Im Rahmen dessen setzen Einzelstaaten wie Österreich Initiativen.

Politisch zerrissen

Allerdings: Für wirklich schlagkräftige Initiativen bleibt die EU politisch zu zerrissen. Beispielsweise steht eine Achse aus selbsterklärten "frugalen" – also sparsamen – Staaten allzu hohen Subventionen skeptisch gegenüber und beschwört stattdessen gern staatliche Haushaltsdisziplin, darunter auch Österreich. Zu viel Spendierfreude wird in weiten Teilen der EU misstrauisch beäugt und als Geschenk an angeblich ineffiziente EU-Südstaaten empfunden. In den USA hingegen herrscht trotz aller sonstigen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern weitgehend Konsens darüber, dass es Industrien zu fördern gilt.

All das spricht dafür, dass es schon bald ein Verlustgeschäft für Industrielle sein könnte, noch länger in Europa zu bleiben.

Nein, die Gefahr droht nicht. Es mag ein langer und steiniger Weg sein, doch es zeichnet sich unbestritten ab: Die Weltwirtschaft steht am Beginn einer fundamentalen grünen Wende hin zu klimafreundlichen Technologien. Die Energieversorgung, die Industrien, die Mobilität – all das wird mit in den kommenden beiden Jahrzehnten mit einiger Wahrscheinlichkeit auf neue Beine gestellt. Diese Klimawende ist alles andere als ein weit entferntes, utopisches Projekt. Vielmehr wurde sie in zahlreichen Staaten bereits in Form von Gesetzen und politischen Bekenntnissen verankert, unter anderem in Österreich und der EU.

Diese Umstellung wird enorm viel kosten – und sie wird die Wirtschaft befeuern. Allein für Österreich prognostiziert das Umweltbundesamt bis zum Jahr 2030 die Notwendigkeit zusätzlicher Investitionen in Höhe von 145 Milliarden Euro, soll es tatsächlich in Richtung Klimaneutralität oder zumindest deutlich weniger CO2-Ausstoß gehen.

Nicht De-, sondern Reindustrialisierung

Was für alle hochentwickelten Staaten des Westens gilt, gilt deshalb auch für Europa: Es steht keine Deindustrialisierung an, sondern eine Reindustrialisierung, auf neue, grüne Weise.

Vor diesem Hintergrund muss es gar nicht schlecht für die EU sein, dass die USA in Form ihres Inflation Reduction Act Milliardensubventionen in den Aufbau grüner Industrien stecken. Was jenseits des Ozeans entwickelt und marktreif gemacht wird, wird angesichts der hohen Nachfrage, die aus der Klimawende resultiert, schnell seinen Weg zurück nach Europa finden.

Starke und zukunftsfähige Industrien gleichzeitig in Europa und den USA – insbesondere in Wendezeiten schließt das einander nicht aus, im Gegenteil, es verstärkt einander. Dazu kommt ein positiver Nebeneffekt der US-Subventionen aus Sicht der EU: Mehr US-Industrie würde Europa unabhängiger von China machen, an das sich die EU in den vergangenen Jahrzehnten in wirtschaftlich-industrieller Hinsicht allzu sehr gebunden hat. Diese Fixierung auf China führt zu vielen Problemen – man denke an störungsanfällige Lieferketten. Insofern kommt eine stärker industrialisierte USA der EU durchaus gelegen.

Europa ist ein grüner Vorreiter

Europa ist außerdem gut gerüstet für die internationale Neuaufstellung der Industrie, weil der Kontinent seit langer Zeit als Vorreiter fungiert: Kein Wirtschaftsraum hat sich bisher ökologischer und klimafreundlicher positioniert, auch wenn es natürlich noch zahlreiche Mängel und Schwachstellen gibt.

Man denke beispielsweise den EU-weiten Emissionshandel, durch den der CO2-Ausstoß von Industriebetrieben einer Abgabe unterworfen ist, was Betriebe dazu anregt, energieeffizient zu wirtschaften. Oder an CO2-Steuern in Ländern wie Österreich. Derartige Regeln führen dazu, dass sich die europäische Wirtschaft einstellt auf die Transformation. Eine wichtige Rolle spielt überdies, dass die Spritpreise in der EU deutlich höher als in den USA sind, konkret um ungefähr das Doppelte etwa bei Benzin. Das führt dazu, dass die E-Mobilität und etwa die Batteriewirtschaft in der EU ein viel größeres Potenzial haben, betreffend Kunden wie Unternehmen, als etwa in den USA, wo weiterhin die billigen Verbrenner herumkurven. Heißt, Europas Industrie ist durchaus gut gerüstet für die Zukunft. Vor einer Deindustrialisierung braucht man hier keine Angst zu haben. (Joseph Gepp, 1.3.2023)