Es war vor mehr als 45.000 Jahren, als unsere Vorfahren aus Afrika kommend Europa und den Alpenraum erreichten und hier auch auf den Neandertaler trafen. Die klimatischen Umstände waren damals alles andere als günstig – und sie sollten sich in den nächsten Jahrtausenden nicht unbedingt verbessern, eher im Gegenteil. Der Höhepunkt der Eiszeit war das Letzteiszeitliche Maximum (LGM), das vor rund 26.500 Jahren begann und vor rund 20.000 Jahren endete.

Damals bedeckten riesige Eisschilde große Gebiete Nordeuropas, Nordamerikas und Asiens, aber auch den Alpenraum. Der Meeresspiegel lag damals aufgrund der Vergletscherung im Vergleich zu heute um weit über 100 Meter tiefer. Wo und wie aber überlebten unsere Vorfahren angesichts der weitreichenden Vergletscherungen in Europa? Und kam es wegen der Kälte zu Migrationen in den Süden? Dieser lange als unbeantwortbar geltenden Fragen hat sich nun ein riesiges internationales Forschungsteam angenommen.

356 Genome aus 30.000 Jahren

Die 125 Wissenschafterinnen und Wissenschafter unter anderem der Universitäten Tübingen und Peking sowie des Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionäre Anthropologie in Leipzig haben für ihre große Studie, die am Mittwoch im Fachblatt "Nature" erschien, die Genome von insgesamt 356 prähistorischen Individuen aus 30.000 Jahren untersucht – darunter neue Genomdatensätze von 116 Individuen aus 14 verschiedenen europäischen und zentralasiatischen Ländern.

Die ersten modernen Menschen Europas waren, wie eine andere Untersuchung kürzlich zeigte, noch nicht die genetischen Vorfahren späterer Populationen. Die neue Studie konzentrierte sich deshalb auf Menschen, die zumindest in Teilen als Vorfahren der heutigen Menschen Westeurasiens gelten und vor 35.000 bis 5.000 Jahren lebten.

Rekonstruktion eines Jägers und Sammlers der Gravettien-Kultur, deren Vertreter vor 32.000 bis 24.000 Jahren Europa beherrschten. Die Tracht ist inspiriert von den archäologischen Funden in der Fundstätte von Arene Candide in Italien.
Foto: Tom Bjoerklund

Die älteste Kultur, die vom Team um Erstautor Cosimo Posth (Uni Tübingen) untersucht wurde, war die des sogenannten Gravettien, das ab etwa 30.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung für rund 8.000 Jahre in Europa dominierte.

Seine Angehörigen verwendeten ähnliche Waffen und produzierten ähnliche, mit Tiergesichtern verzierte Schnitzereien. Die Analysen der alten DNA brachten aber eine Überraschung: Trotz ähnlicher Kultur waren die Populationen im Westen und Südwesten (heutiges Frankreich und Iberische Halbinsel) von den zeitgleich lebenden Populationen in Zentral- und Südeuropa (heutiges Tschechien und Italien) genetisch sehr verschieden.

Die Angehörigen der Gravettien-Kultur in West- und Ost-/Südeuropa unterschieden sich genetisch überraschend stark. Die Westgravettier (links) überlebten während des letzten glazialen Maximums, während die Ost- und Südgravettier verschwanden.
Foto: Michelle O‘Reilly and Laurent Klaric, inspiriert durch Originalarbeiten von Benoit Clarys

Flucht auf die Iberische Halbinsel

Als es dann vor rund 26.000 Jahren so richtig kalt wurde, flüchteten viele Bewohner anderer Teile Europas in das heutige Spanien, das damals klimatisch günstigere Bedingungen bot. Als es dann wieder wärmer wurde, breiteten sich diese Jäger und Sammler, die auf der Iberischen Halbinsel für Jahrtausende "überwintert" hatten, über 20.000 Jahre lang wieder Richtung Norden und Osten über Europa aus. (Dieser Befund wird auch durch eine zeitgleich erschienene Studie in "Nature Ecology & Evolution" über Funde aus Spanien bestätigt.)

Als weiterer eiszeitlicher Rückzugsort galt bisher die italienische Halbinsel. Für diese These fand das Team allerdings keine Belege, im Gegenteil: Die in Zentral- und Südeuropa lebenden Jäger und Sammler der Gravettien-Kultur sind dort nach dem Kältemaximum genetisch nicht mehr nachweisbar und gelten damit als ausgestorben. Stattdessen ließen sich dort Menschen mit einem neuen Genpool nieder.

"Großer genetischer Austausch"

Anhand der analysierten Genome ließ sich zudem nachvollziehen, dass sich die Nachfahren dieser frühen Einwohner der italienischen Halbinsel dann vor etwa 14.000 Jahren über ganz Europa verbreiteten und dabei die Gruppen verdrängten, die mit der sogenannten Magdalenien-Kultur assoziiert waren. Die Forschenden sprechen in dem Zusammenhang von einem "großen genetischen Austausch". Grund waren möglicherweise ebenfalls klimatische Veränderungen, auf die Menschen durch Wanderung reagierten.

Der älteste Beweis für die Wanderbewegung während der Klimaerwärmung: Schädel eines Mannes und einer Frau, die vor rund 14.000 Jahren im Westen des heutigen Deutschland (Oberkassel) bestattet wurden. Genetisch stammen sie aus dem Süden.
Foto: Jürgen Vogel, LVR-LandesMuseum Bonn

Was war der Grund dafür? "Damals erwärmte sich das Klima in kurzer Zeit deutlich, und Wälder breiteten sich in ganz Europa aus. Möglicherweise war dies für die Menschen aus dem Süden Anlass, ihren Lebensraum auszuweiten", vermutet Johannes Krause, Letztautor der Studie und einer der Direktoren des MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Die früheren Bewohner hingegen könnten mit dem Schwund ihres Lebensraumes, der Mammutsteppe, verdrängt worden sein."

Zuwanderung aus Anatolien

Zudem zeigen die neuen Studienergebnisse, dass es für mehr als 6.000 Jahre keinen genetischen Austausch zwischen den Jägern und Sammlern Westeuropas und ihren Zeitgenossen in Osteuropa gab. Begegnungen zwischen Menschen des zentraleuropäischen Kontinents und des osteuropäischen Raums (heutiges Baltikum und entlang der Wolga) lassen sich erst wieder für die Zeit vor 8.000 Jahren nachweisen. Diese Gruppen hatten nicht dieselbe Haut- und Augenfarbe und unterschieden sich auch in anderen Merkmalen.

In dieser etwas wärmeren Zeit breiteten sich schließlich auch der Ackerbau und eine sesshafte Lebensweise von Anatolien nach Europa aus. Diese Einwanderung der frühen Bauern aus der heutigen Türkei dürfte einen endgültigen Rückzug der Jäger und Sammler an den nördlichen Rand Europas ausgelöst haben – und gleichzeitig begann eine genetische Vermischung zwischen beiden Gruppen, die fast 3.000 Jahre andauerte. (Klaus Taschwer, 1.3.2023)