Abschiedsgedenken für die Opfer des Bootsunglücks in der kalabrischen Provinzhauptstadt Crotone.

Foto: EPA/CARMELO IMBESI

Die 66 Särge der bisher geborgenen Toten sind in Reih' und Glied in der großen Sporthalle der kalabrischen Provinzhauptstadt Crotone aufgestellt worden. Auf jedem liegt ein Kranz mit Blumen. Auch mehrere weiße Kindersärge sind darunter; auf einen von ihnen hat jemand einen kleinen Spielzeuglastwagen gestellt. Die Bilder werden vom Fernsehen in allen Nachrichtensendungen in die Wohnzimmer der Italienerinnen und Italiener übertragen und prangen auf den Frontseiten der Zeitungen – ein Mahnmal, und auch eine unausgesprochene Anschuldigung: Warum hat diese Menschen, warum hat diese Kinder niemand gerettet?

Genau dieser Frage geht der Staatsanwalt von Crotone nach, der eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet hat. Auch im Parlament in Rom gab es dazu schon eine Anhörung. Fest steht schon jetzt, dass es keinen Rettungsversuch gegeben hat: Ein Überwachungsflugzeug der europäischen Grenzschutzagentur Frontex hat das Flüchtlingsboot zwar schon am Abend vor dem Unglück gesichtet, und die Aufnahme einer Wärmebildkamera legte nahe, dass sich zahlreiche, vielleicht sogar hunderte Personen an Bord des Schiffs befanden.

Küstenwache blieb untätig

Weil sich das Boot aber noch nicht in Seenot befand, avisierte die Frontex-Crew nicht die Küstenwache, sondern die italienische Finanzpolizei, die zwei Schiffe losschickte. Das Ziel der Aktion bestand aber nicht darin, die Flüchtlinge zu retten, sondern den Gesetzen zur illegalen Einwanderung Nachachtung zu verschaffen.

Wegen der widrigen Witterungsverhältnisse – Windstärke 8, vier Meter hohe Wellen – schafften es die beiden Schiffe nicht, das Flüchtlingsboot zu erreichen – und kehrten unverrichteter Dinge in ihre Häfen zurück. Auf den Gedanken, dass ein Seegang, der selbst die modernen Schnellboote der Finanzpolizei überfordert, auch einen überladenen, hölzernen Fischkutter in Schwierigkeiten bringen könnte, kam offenbar niemand – und auch vom Flüchtlingsboot selbst kam kein Notruf.

Die Küstenwache, die über eigens für die Rettung von Schiffbrüchigen ausgerüstete Boote verfügt, blieb untätig. Sie kam erst, als das Flüchtlingsboot hundert Meter vor dem Strand der Kleinstadt Cutro bereits zerschellt war. Die Crew der Küstenwache konnte nur noch dabei mithelfen, die an den Strand gespülten, dutzenden Toten aus der Brandung zu tragen.

Innenminister Matteo Piantedosi in der Kritik

Die Opposition und Vertreter der Kirche wie der Bischof von Palermo machten umgehend die restriktive Migrationspolitik der Rechtsregierung von Giorgia Meloni und die Untätigkeit der EU für das Drama in Kalabrien verantwortlich. Im Zentrum der Kritik stehen der parteilose Innenminister Matteo Piantedosi, der mit einem Dekret die Arbeit der privaten Seenotretter massiv eingeschränkt hat, sowie Lega-Chef Matteo Salvini, der als Infrastrukturminister für die Häfen und damit auch für die Küstenwache zuständig ist.

Die beiden Hardliner geben den Takt an bei der Migrationspolitik der Regierung – und waren schon früher ein Team gewesen: Als Salvini von 2018 bis 2019 Innenminister war und die "Politik der geschlossenen Häfen" einführte, war Piantedosi sein Kabinettschef.

Piantedosi wies jede Kritik an seinem Dekret zurück – und machte stattdessen die Flüchtlinge für das Unglück verantwortlich. Er warf den Toten Verantwortungslosigkeit vor: "Sie hätten bei diesem Wetter schon gar nicht losfahren dürfen. Die Verzweiflung rechtfertigt es nicht, dass man seine eigenen Kinder in Gefahr bringt", erklärte der Innenminister.

Politik der Kriminalisierung

Nun muss er sich Ignoranz gegenüber den Fluchtursachen und fehlende Empathie angesichts der 66 Särge in Crotone vorwerfen lassen. Nachdem es Rücktrittsforderungen gehagelt hatte, versuchte Piantedosi zu retten, was nicht mehr zu retten war: Er sei über die Tragödie menschlich ebenfalls erschüttert, aber sein Amt erlaube es ihm eben nicht, seine Gefühle zu zeigen, erklärte der Innenminister.

Letztlich ist die Regierung von Giorgia Meloni mit ihrer Politik der Kriminalisierung der Migranten und der privaten Retter bereits gescheitert: Die Zahl der in Italien ankommenden Bootsflüchtlinge hat sich in den ersten zwei Monaten des Jahres nicht wie im Wahlkampf versprochen reduziert, sondern gegenüber dem Vorjahr auf über 14.000 fast verdreifacht. Und die italienischen Geheimdienste warnen angesichts der instabilen politischen Verhältnisse in Tunesien bereits vor der nächsten "Zeitbombe". (Dominik Straub aus Rom, 1.3.2023)