Müssen wir eines Tages nicht mehr miteinander reden, sondern nur noch denken?

Illustration: Fatih Aydogdu

Im Jahr 2014 gelang dem Forschungsinstitut Starlab aus Barcelona eine kleine Sensation. Sie schafften es, zwei Personen über tausende Kilometer hinweg miteinander sprechen zu lassen. Nicht per Telefon, nicht per Videoanruf, sondern durch Gehirnsignale. Ein Elektroenzephalograph (EEG) zeichnete die Hirnsignale einer Versuchsperson auf, die im indischen Thiruvananthapuram saß. Wenn die Forschenden ihr ein Bild von einer Eins oder einer Null zeigten, sollte sich die Person vorstellen, ihre Hände oder Füße zu bewegen. Auf diesem Weg konnten die Forschenden die Wörter "Hola" und "Ciao" in den Binärcode übersetzen – also in eine Kombination aus Nullen und Einsen.

Per E-Mail sendete das Team die Nachricht nach Straßburg. Über ein spezielles Gerät erhielt der Empfänger elektrische Impulse im visuellen Kortex seines Gehirns. In seinem Sichtfeld tauchten Phosphene auf – Lichtblitze, die eigentlich nicht da sind. Das Forschungsteam übersetzte die Lichtblitze wiederum in den Binärcode und entschlüsselte so die Botschaft. Die Methode, die sich als eine Art Morsecode bezeichnen lässt, stellt freilich noch keinen Durchbruch für die Gedankenübertragung dar. Doch das Experiment wirft die Frage auf, ob Menschen eines Tages tatsächlich über ihre Gedanken kommunizieren könnten.

Zwischen Mensch und Computer bereits möglich

Eines ist sicher: Es würde die Kommunikation grundlegend verändern. Statt E-Mails, Chatnachrichten oder Emojis zu verschicken, würden Menschen einfach denken, was sie einander sagen wollen. Menschen könnten sich in die Gefühle, Träume und Hoffnungen anderer hineinversetzen, unabhängig von Muttersprache oder Herkunft. Eine offenere Welt durch offene Gedanken – davon träumen viele in der Neurowissenschaft. Der brasilianische Neurowissenschafter Miguel Nicolelis bezeichnet die Verschmelzung menschlicher Hirnaktivitäten in seinem Buch "Beyond Boundaries" etwa als die nächste Stufe der menschlichen Evolution.

Durch implantierte Gehirn-Computer-Schnittstellen können Menschen mit Querschnittslähmung etwa Roboterarme oder Prothesen steuern. Wie hier ein Proband an der Universität von Pittsburgh, Pennsylvania.
Foto: AFP / Handout

Bestärkt werden solche Visionen nicht nur von Experimenten, wie sie die Forschenden von Starlabs durchgeführt haben. Es sind auch die Fortschritte, die die Neurowissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hat. Gehirn-Computer-Schnittstellen – oder "Brain-Computer-Interfaces" – bringen bereits Musik vom Gehirn direkt aufs Notenblatt oder Pinselstriche auf Leinwände. Schlaganfallpatienten oder gelähmte Personen können mit ihrer Hilfe wieder Körperteile bewegen. Mit Hirn-zu-Hirn-Kommunikation oder gar Gedankenlesen hat das bisher aber nichts zu tun.

"Wir lesen nicht Gedanken, sondern wir analysieren Gehirnmuster", sagt Gernot Müller-Putz, der das Institut für Neurotechnologie an der TU Graz leitet. Die Funktionsweise erklärt er an einem Beispiel: Ein Patient stellt sich vor, die rechte oder linke Hand zu bewegen. Durch maschinelles Lernen und Mustererkennung sehen Forschende dann, welches Gehirnmuster aktiviert wird. Ein Computer, der die Muster erkennt, führt dann einen bestimmten Befehl aus. So können Betroffene etwa eine Handprothese öffnen oder schließen. Doch komplexe Gedanken zwischen Gehirnen auszutauschen oder gar "Gedankengespräche" zu führen – davon ist die Wissenschaft noch weit entfernt.

Jeder Mensch denkt anders

Prinzipiell kann die Neurowissenschaft schon vieles aus Gehirnströmen ablesen – etwa wann ein Mensch blinzelt, in welche Richtung er schaut oder teilweise sogar, ob er die Wahrheit sagt. Doch es ist äußerst schwierig, komplexe Gedanken aus dem Hirn auszulesen. Gedanken sind kreuz und quer im Hirn vernetzt. Sie sind sprunghaft und nehmen gerne mal unerwartet eine Abzweigung. Unter den Wörtern "Katze" oder "Hund" stellt sich jeder Mensch etwas anderes vor. "Das Gehirn ist wahnsinnig komplex aufgebaut", sagt Müller-Putz. "Es ist kein Speicherchip, auf dem unter einer bestimmten Adresse ein bestimmtes Wort liegt."

EEG-Hauben messen Hirnströme indirekt an der Kopfhaut. Der Schädel dämpft die Signale aber ab und erschwert so die Messung.
Foto: AP / Angelica Edwards / Tampa Bay Times

Noch fehlt außerdem die Technik, um Gehirne auf direktem Weg miteinander zu verknüpfen. Hirnforscherinnen und -forscher nutzen etwa EEG-Hauben, um Hirnströme an der Kopfhaut zu erfassen. Doch der Schädel dämpft die Signale ab und erschwert so die Messung. Auch Hirnscanner können zwar die Hirnaktivität abbilden, aber keine konkreten Gedanken erkennen. Und wie Informationen überhaupt in ein Gehirn eingeschleust werden sollen, ist ein ungelöstes Problem.

Mit KI zum Geistesblitz?

Neue Chancen, um Gedanken zu analysieren und für die Kommunikation zu entschlüsseln, könnte die künstliche Intelligenz bieten. Sie erkennt dort Muster und Querverbindungen, wo Forschende keine sehen. Doch Fachleute betonen, dass eine KI nur so gut wie die Daten ist, mit denen sie arbeitet. Hirnforscher müssen stundenlang mit Versuchspersonen im Labor trainieren, um die Datenbank mit Aktivitätsmustern eines Gehirns zu befüllen.

Mit den bisherigen Methoden können Forschende nicht immer eine gute Datenqualität gewährleisten. "Wenn Sie die KI mit schlechten Daten trainieren, werden Sie ein schlechtes Ergebnis bekommen", sagt Veronika Schöpf vom österreichischen Wissenschaftsfonds, die lange in der Hirnforschung tätig war.

Neuralink plant, seine Gehirn-Computer-Schnittstellen mit einem speziellen Operationsroboter in den menschlichen Schädel zu implantieren.
Foto: Reuters / Woke Studios / Neuralink

Hirnimplantate bergen Risiken

Neben KI halten viele Fachleute Implantate für vielversprechend, die direkt am Gehirn verdrahtet werden. Neuralink, eines der Unternehmen von Tesla-Chef Elon Musk, will Menschen bald solche Schnittstellen operativ in den Schädel implantieren. So sollen Gedanken direkt ausgelesen und durch Stimulierung der Neuronen auch eingelesen werden können. Auch Darpa, die Forschungseinrichtung des US-Militärs, steckt seit Jahren Geld in die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen. Soldaten sollen im Gefecht lautlos kommunizieren oder Drohnen mit ihren Gedanken steuern, so die Vision.

Invasive Methoden, die direkt am Gehirn ansetzen, bleiben aber umstritten. Schon kleine Entzündungen oder Verletzungen des Denkorgans können massive Auswirkungen haben. Fraglich bleibt daher, ob der Nutzen die Risiken übersteigt – und wie viele Menschen sich in Zukunft überhaupt freiwillig Elektroden in den Kopf implantieren lassen. "Sie würden auch kein Smartphone verwenden, wenn Sie dafür einen Stecker in den Kopf bräuchten", sagt Müller-Putz. Trotzdem vermutet der Experte, dass Hirnimplantate eines Tages für den Privatgebrauch auf den Markt kommen: "Damit meine ich aber: vom Gehirn zu einem Gerät, nicht zu anderen Gehirnen. Das ist noch viel weiter weg."

Wer braucht das überhaupt?

Die Gedankenübertragung, sollte sie Realität werden, wirft heute bereits ethische Fragen auf. Schließlich sind Gedanken das privateste Gut, das Menschen besitzen. Durch die Privatsphäre ihrer Gedankenwelt bleiben Menschen autonom. Ist ein Gedanke einmal gedacht, würde es vielleicht kein Zurück mehr geben – die Freiheit, abzuwägen und sich noch umzuentscheiden, wird geraubt. Und wer Gedanken übertragen kann, kann sie irgendwann vielleicht auch lesen oder injizieren. Schnittstellen könnten abgehört, missbraucht oder manipuliert werden. Forschende fordern deshalb schon jetzt einen besseren Schutz für Neurodaten, bevor es zu spät ist.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob es für gesunde Menschen überhaupt erstrebenswert ist, über Gedanken zu kommunizieren. Denn am Ende machen nicht nur Gedanken, sondern auch die gesprochene und geschriebene Sprache die Menschen aus. Ob Gehirne jemals miteinander kommunizieren werden können, bleibt deshalb fraglich. Nötig sind nicht nur Fortschritte in der Technologie, sondern auch im menschlichen Verständnis von Gedanken und Bewusstsein. Bis Menschen über Gedanken sprechen, müssen Forschende noch viel Hirnschmalz investieren, tüfteln, grübeln und vor allem nachdenken – und das vorerst ganz für sich allein. (Florian Koch, 5.3.23)