Die Menschenopfer der Azteken sind legendär und geben der Wissenschaft nach wie vor Rätsel auf. Lange war man dabei auf Berichte der Konquistadoren – etwa Bernal Díaz del Castillos "Wahrhafte Geschichte der Eroberung von Neuspanien" (1519–1521) – angewiesen. In diesen alten Augenzeugenberichten war etwa davon zu lesen, dass die damaligen Herrscher im heutigen Mexiko sogenannte Tzompantlis errichtet hätten, riesige hölzerne Gestelle, auf denen bis zu 100.000 Schädel von Geopferten aufgereiht worden seien.

Darstellung eines kleinen Tzompantli (rechts) im Codex Tovar (1587).
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Das wurde im 20. Jahrhundert immer wieder als Gräuelpropaganda der spanischen Eroberer infrage gestellt: 100.000 Schädel klang dann doch etwas übertrieben. Doch 2015 stieß man bei Grabungen in Mexiko-Stadt erstmals auf Überreste jenes Schädelgestells, das am Fuße des Templo Mayor errichtet worden war, also des Zentrums der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan, die im Jahr 1521 von den Eroberern dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Bei weiteren Grabungen 2018 wurden dann die wahren Dimensionen des riesigen Tzompantlis abschätzbar, der 36 Meter lang gewesen sein dürfte und vermutlich jeweils zwei bis drei Meter hoch und tief. Dazu gab es an den Seiten zwei rund 1,7 Meter hohe Türme mit einem Durchmesser von fünf Metern – voll mit Schädeln. Ende 2020 fand man weitere 119 Schädel.

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38 Prozent Frauenanteil

Inzwischen liegen genauere Untersuchungen von immerhin 655 dieser Schädel vor, die erste Analysen korrigieren. Nahm man zunächst an, dass die Schädel vor allem von männlichen Kriegern stammten, die von den Azteken gefangen genommen worden waren, so ergibt sich nun ein etwas anderes Bild, wie der Archäologe Raúl Barrera Rodríguez vor wenigen Tagen bei einem Vortrag in Mexiko-Stadt erklärte.

Ursprünglich war man von einem Frauenanteil von nur 20 Prozent ausgegangen. Doch nun zeigte sich, dass die Schädel zu 38 Prozent von weiblichen Individuen stammten, nur 60 Prozent waren männlich. Dazu kommen noch zwei Prozent Säuglinge. Waren die Tzompantlis lange Zeit (auch) als triumphales Zeugnis der Siege über feindliche Stämme verstanden worden, so rückte auch durch diese neuen Erkenntnisse die Menschenopferkomponente wieder in den Vordergrund, die auch Barrera Rodríguez bei seinem Vortrag bemühte.

Mythische Deutungen des Geschehens

Grundsätzlich sei es bei den mythischen Opferungen darum gegangen, das Wertvollste des Menschen dem Sonnengott Huitzilopochtli darzubringen, also das Leben selbst, um so den Sonnenaufgang zu ermöglichen und damit den Fortbestand der Welt zu garantieren. Gefangene Krieger wurden zu diesem blutigen Zweck zum Templo Mayor geschleppt. Dort schnitt ihnen ein Priester das noch schlagende Herz heraus und hielt es als Opfergabe für Huitzilopochtli in die Höhe, bevor er den Kopf des Opfers abtrennte und ihn dem Tzompantli hinzufügte.

Darstellung einer aztekischen Opferung im Codex Magliabechiano aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Laut neuen Analysen dürften weit mehr Frauen geopfert worden sein als bisher angenommen.
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Es wird angenommen, dass der Körper dann vom Opferaltar geworfen wurde, um symbolisch den Höhepunkt des Kampfes zwischen Huitzilopochtli und seiner Mondschwester Coyolxauhqui nachzustellen, der damit endete, dass der Sonnengott den zerstückelten Körper seiner Schwester vom heiligen Berg Coatepec warf, der durch die Architektur des Templo Mayor repräsentiert wurde.

Unbekannte Herkunft der Frauen

Die Tatsache, dass so viele der gefundenen Schädel von Frauen stammten, lässt Barrera Rodríguez vermuten, dass die Azteken weibliche Opfer verwendet haben, um die Authentizität dieser Nachstellung zu erhöhen. Woher diese unglücklichen Frauen stammten, sei aber schwer zu sagen. "Historische Quellen erwähnen weibliche Krieger nur selten", sagte der Archäologe. "Wir haben aber auch Zeugnisse wie jene des Spaniers Francisco de Aguilar, der berichtete, dass während der letzten Belagerung von Tenochtitlan viele Frauen zu den Waffen griffen und die Stadt verteidigten."

Nicht restlos geklärt ist auch der Grund für die Opferung der Säuglinge, aber auch dafür hat Barrera Rodríguez eine Vermutung: Sie könnten möglicherweise zur Nachstellung der Geburt des Sonnengottes verwendet worden sein. (Klaus Taschwer, 5.3.2023)