Mittlerweile kommen die Hilfslieferungen in der Region an.

Foto: MSF

Mit Containern ersetzen die Helferinnen und Helfer zerstörte medizinische Einrichtungen.

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Massart geht davon aus, dass die Konsequenzen des Bebens noch Monate und Jahre zu spüren sein werden.

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Während die Hilfe für die türkischen Erdbebengebiete schnell angelaufen ist, war es kurz nach dem ersten heftigen Erdstoß schwierig, in die nordsyrischen Gebiete zu gelangen. Nur ein Grenzübergang war offen, die Öffnung zweier weiterer folgte erst nach UN-Verhandlungen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) ist im von Rebellen kontrollierten Nordwesten Syriens seit mehreren Jahren aktiv. In den vergangenen Wochen mussten die Helferinnen und Helfer ihren Einsatz neu organisieren, um den bereits vom Krieg betroffenen Menschen nach dem Beben zu helfen, erzählt Emmanuel Massart, der Einsatzkoordinator für die Region.

STANDARD: Welche Auswirkungen hatte das Beben auf die Region?

Massart: Die Situation war bereits katastrophal. Mehr als die Hälfte der vier Millionen Menschen, die im Nordwesten leben, befindet sich in Camps, wurde durch den Krieg vertrieben. Das Beben kam auch noch mitten im Winter. Und es war ja nicht nur ein Beben. Es gab zahlreiche Erdstöße danach. Viele medizinische Einrichtungen wurden zerstört, Menschen obdachlos. Es wurde noch zu wenig auf das Desaster reagiert.

STANDARD: Es war schwierig, Hilfsgüter zu liefern. Funktioniert das nun?

Massart: Zu Beginn gab es nur einen offenen Grenzübergang, Bab al-Hawa. Und es waren auch die Straßen auf türkischer Seite massiv beschädigt. Im Moment kommen die Trucks mit den Hilfsgütern durch, weitere Übergänge sind offen. Doch es ist schwer, die benötigten Dinge zu kaufen. Die Märkte in der Türkei sind leer. Das bedeutet, dass wir das Material importieren müssen.

STANDARD: Bereits vor dem Beben gab es einen Cholera-Ausbruch in der Region. Wie groß ist die Gefahr im Moment?

Massart: Wir versuchen alles, um einen weiteren Ausbruch zu verhindern. Dafür braucht es aber sauberes Trinkwasser und Sanitäranlagen. Wir kümmern uns im Moment auch um Klos für die Menschen in der Region. Würde es erneut viele Fälle von Cholera geben, wäre das eine große Herausforderung für die Einsatzkräfte und die Betroffenen.

STANDARD: Zahlreiche medizinische Einrichtungen wurden zerstört – wo werden Verletzte behandelt?

Massart: Es sind ja nicht nur Verletzte, die medizinische Hilfe benötigen. Frauen bekommen weiterhin Kinder, Kranke benötigen weiterhin eine Behandlung. Wir haben mit Containern einige temporäre Strukturen aufgebaut. Die funktionieren gut fürs Erste. Im Moment betreiben wir als MSF 30 medizinische Einrichtungen in dem Gebiet.

STANDARD: Das Gebiet, in dem Sie tätig sind, wird von der Rebellengruppe Hay’at Tahrir al-Sham kontrolliert. Sind Sie auch in Kontakt mit anderen Akteuren?

Massart: Wir sprechen mit allen Seiten und haben auch der Führung in Damaskus und der Regierung in Ankara offiziell unsere Hilfe für ihre Gebiete angeboten. Doch bis jetzt gab es noch keine Antwort. Deshalb spenden wir Sachgüter an Organisationen im türkischen Gebiet und sind nicht selbst vor Ort.

STANDARD: Der US-Vizebotschafter bei der Uno warnte diese Woche, dass Hilfslieferungen an Damaskus zum Verkauf auf Märkten aufgetaucht seien, sich Offizielle bereichern würden.

Massart: Das kann ich weder bestätigen noch zurückweisen. Wir spenden nicht an Behörden, sondern haben alles selbst mit, was wir für die Behandlung der Patienten benötigen.

STANDARD: Wie lange wird der Erdbebeneinsatz noch dauern?

Massart: Die Konsequenzen werden noch Monate und Jahre spürbar sein. Zahlreiche Menschen werden in Camps feststecken, weil man ihre Häuser nicht wieder aufbauen kann. Es braucht einfach mehr Hilfe, mehr finanzielle Unterstützung für die Region. Die Not der Menschen ist enorm. Wir können das nicht allein stemmen. (Bianca Blei, 3.3.2023)