Einen eher ungewöhnlichen Fall verhandelt ein Richter in Wien: Eltern haben ihren Sohn wegen fortgesetzter Gewaltausübung angezeigt.

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Wien – Am 2. Jänner wusste sich der Vater von Johannes (Name geändert, Anm.) endgültig nicht mehr zu helfen. Und alarmierte die Polizei, damit die seinen Sohn im Domizil in einem noblen Wiener Bezirk festnimmt. Seit damals sitzt der 17-Jährige mit den Vorwürfen der fortgesetzten Gewaltausübung gegen die Eltern und der gefährlichen Drohung in Untersuchungshaft, aus der der großgewachsene Teenager von zwei Justizwachebeamten vor Richter Daniel Schmitzberger geführt wird.

Dass sich das Leben des unbescholtenen Angeklagten in diese Richtung entwickeln würde, war nicht absehbar. Vater und Mutter sind Akademiker, erfolgreiche Selbstständige, dem Buben fehlte nichts. Die heute 55-jährige Mutter gab im Ermittlungsverfahren allerdings an, ihr Sohn sei bereits als Baby "schwierig gewesen", mit Schulbeginn habe Johannes immer stärkere Verhaltensauffälligkeiten gezeigt, sagt sie als Zeugin vor Gericht. Johannes habe die Eltern beschimpft, als er als Volksschulkind erstmals stationär in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen wurde, habe er sie im Spital erstmals körperlich attackiert und an den Haaren gerissen.

Angriffe begannen im Volksschulalter

"Er hat mich gefühlt einmal im Monat angegriffen. Über zehn Jahre", erzählt die Frau. Dazu sei das von ihr als "Psychoterror" empfundene tägliche Verhalten gekommen. "Wenn ihm das Essen nicht geschmeckt hat, hat er sich über den 'Fraß' beschwert. Oder er hat fluchend seine Jeans gesucht", erinnert sie sich. "Er ist größer geworden, und niemand hat geholfen", kritisiert sie. Denn auch die Ärzte hätten keine klare Diagnose stellen können, gegenüber anderen Menschen oder Tieren habe sich der Österreicher nie aggressiv verhalten. "Er hat nach Hilfe gerufen, aber wir konnten sie ihm nicht geben. Auch die Psychologen nicht", resümiert sie.

Der Angeklagte selbst bekennt sich zur fortgesetzten Gewaltausübung schuldig, bestreitet aber die Häufigkeit. Seit seiner Strafmündigkeit mit 14 habe es nur drei Auseinandersetzungen gegeben, ist er sich sicher. Schmitzberger zeigt Johannes Bilder, die seine Eltern der Polizei gegeben haben. Zu sehen ist beispielsweise das verwüstete Ankleidezimmer der Mutter. "Da war ich zwischen sieben und zehn. Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, was da war", sagt der Angeklagte dazu. Seine Mutter weiß es noch: Es war die Reaktion des Kindes auf den Entzug seines Mobiltelefons.

Hämatome beim Vater

Ein anderes Bild zeigt das Chaos, das er im Schlafzimmer der Eltern angerichtet hat, weitere Hämatome an Hüfte und Fingern des Vaters. Im vergangenen Dezember hat er einmal einen Sessel aus einem oberen Stockwerk über das Treppengeländer geworfen, gibt Johannes zu. "Warum?", will der Richter wissen. "Ich habe mich hilflos gefühlt. Das ist die einzige Begründung, die ich sehe", lautet die Antwort.

An anderer Stelle sagt der Angeklagte: "Es ist halt schwierig, wenn man im Leben nichts schafft." – "Was haben Sie nicht geschafft?", fragt Schmitzberger. "Ich habe die Schule nicht geschafft, ich habe den Job nicht geschafft." – "Aber Sie haben ja einen Schulabschluss?" – "Ja, in der Neuen Mittelschule", ist Johannes offenbar enttäuscht, dass er das Gymnasium verlassen musste. Die Lehre im Unternehmen seines Vaters brach er ebenso ab. Anschließend gründete der Vater, mit dem der Angeklagte seit dem Auszug der Mutter im Oktober 2021 zusammenlebt, für ihn einen Onlineshop. Ein durchschlagender ökonomischer Erfolg scheint der nicht zu sein – zuletzt verdiente Johannes nach eigenen Angaben knapp über 200 Euro damit.

Einstweilige Verfügung gegen Sohn

Die Eltern haben eine aufrechte einstweilige Verfügung gegen ihren Sohn erwirkt, die ein Jahr gültig ist. Der Vater hat den Streit im Jänner, der ihn nach der Exekutive rufen lief, sogar aufgenommen, Auszüge der halbstündigen Tondatei werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgespielt. Aus der Zeugenaussage des Vaters und den Schlussplädoyers wird klar, dass Johannes damals offenbar ein Küchenmesser geschliffen hat, während er von "Messerstecherei" sprach und der Vater ihn mehrmals aufforderte, das Messer wegzulegen. Warum sein Vater da Angst bekam, kann sich Johannes nicht recht erklären. "Ich wollte meinem Vater wirklich nie etwas Schlimmes. Ich liebe ihn!", erklärt er. "Als ich mir die Aufnahme angehört habe, habe ich mir Sorgen um Ihren Vater gemacht", hält dagegen Schmitzberger fest.

Der Richter erfährt vom Vater aber auch ein seltsames Detail: Es habe nach Ausrastern und Angriffen offenbar nie Gespräche mit dem Sohn gegeben. "Er hat es nie angesprochen", sagt er. "Haben Sie es angesprochen?", fragt der Richter. "Nein." Derzeit könne er sich nicht vorstellen, dass Johannes wieder bei ihm einzieht, dafür sei die Angst noch zu groß. "Wollen Sie grundsätzlich wieder Kontakt mit ihm haben?" – "Ja, selbstverständlich. Er ist mein Sohn."

Gemengelage psychischer Störungen

Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann diagnostizierte beim Angeklagten zwar eine Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen und sieht eine Gemengelage psychischer Störungen, die aber nicht so gravierend seien, dass Johannes in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden könnte. Hofmann empfiehlt die Unterbringung in einer betreuten Wohneinrichtung, spezialisierte Psychotherapie und medikamentöse Behandlung. Der Angeklagte ist damit einverstanden.

Am Ende beteuert Johannes, der während des Prozesses mehrmals zu schluchzen begann, dass ihm alles furchtbar leidtue. Wegen fortgesetzter Gewaltausübung verurteilt der Richter ihn zu sechs Monaten bedingter Haft, er kann das Gefängnis also verlassen. Das Wiener Jugendamt, seine gesetzliche Vertretung, hat ihm einen Platz in einer Betreuungseinrichtung organisiert, wo er auch nach seinem 18. Geburtstag wohnen kann.

Zusätzlich ordnet Schmitzberger Bewährungshilfe an, innerhalb eines Monats muss der Angeklagte den Beginn einer Psychotherapie nachweisen und innert dreier Monate den Beginn einer medikamentösen Behandlung. Während der Teenager das Urteil nach Rücksprache mit seinem Verteidiger akzeptiert, gibt die Staatsanwältin keine Erklärung ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 2.3.2023)