Proteste US-amerikanischer Frauen gegen die neuen, restriktiven Abtreibungs- gesetze, die 2022 beschlossen wurden.

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"Einundfünfzig Prozent der Menschheit, die überall schlechtergestellt sind. Bringen nichts Gemeinsames zustande." Das ist so eine zentrale Stelle, von denen es viele gibt im neuen Roman von Gertraud Klemm. Als feministische Autorin muss man Klemm nicht weiter vorstellen, weil sie eine ist, die sich hierzulande in frauenpolitischen Debatten nicht scheut, ihren Mund aufzumachen und sich zu positionieren. Und wer ihr neues Buch mit dem schönen Titel Einzeller schon gelesen hat, der braucht nicht lange nachzudenken, um zu wissen, wer darin solche Aussagen trifft. Mit Sicherheit Simone Hebenstreit, eine knapp 60-jährige ehemalige Lehrerin, die sich – ähnlich wie die Romanautorin – über viele Jahre in der österreichischen Polit-Landschaft und im feministischen Diskurs einen Namen gemacht hat und sich selbst in schwachen Momenten auch gerne "Altfeministin" schimpft.

Dass diese Öffentlichkeitswirksamkeit auch ihre üblen Schattenseiten hat, auch das wird in Einzeller eindrücklich verhandelt. Keine Frage, Simone ist die treibende Kraft in diesem Roman, auch in der WG, in die neben ihr vier weitere ziemlich unterschiedlich alte und unterschiedlich sozialisierte Frauen einziehen, um altlinken Gemeinschaftsutopien wieder neues Leben einzuhauchen, während draußen, abseits des WG-Versuchs, die Gesellschaft merklich nach rechts rückt.

Gertraud Klemm, "Einzeller". € 24,– / 308 Seiten. Kremayer & Scheriau, Wien 2023. Buchpräsentation am 9. 3., 19 Uhr, Literaturhaus Wien.

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Wo sind alle?

Das ist ein idealer Plot, um so drängende Fragen wie "Wem gehört der Feminismus?" Und "Welche Generation hat eigentlich recht?" gebührend abzuhandeln. Aber genau dieses perfekte Storyboard, das diese, wie sich nach und nach herausstellt, volatile Frauen-WG auch erfolgreich ins Realityfernsehen Big Sista hievt, ist gleichzeitig ein Schwachpunkt. Neben der beeindruckenden und mitunter auch andere mit ihren Überzeugungen erdrückenden Simone und ihrem viel jüngeren Gegenüber Lilly, einer aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Studentin, weitaus weniger politisiert und feministisch als Simone, bleiben die weiteren WG-Schwestern Eleonora, Flora und Maren merklich farbloser, obwohl jede Einzelne einen ganzen Kosmos an hochkomplexen Lebensumständen mit sich bringen würde. Dennoch bietet der Roman viel Stoff für pointierte politische Aussagen und legt alle möglichen wichtigen und wunden Punkte rund um feministische Debatten offen: Mutterschaft, Abtreibungsgesetze, Kapitalismus-, Patriarchats- und Religionskritik, Frauenpolitik, Queerfeminismus, Wokeness, Transgender-Debatte, Hass im Netz und Gewalt an Frauen.

Klemm und ihr neuer Roman machen noch etwas augenscheinlich, nämlich wie selbstkritisch Frauen sind, wie sehr sie sich ständig infrage stellen. Genau an diesem Punkt kommen wir auf die 51 Prozent vom Anfang dieses Textes zurück. Warum lehnen sich Frauen nicht auf? Das fragt sich die Autorin in diesem 308 Seiten starken Roman immer wieder: "Wo sind alle, außer auf Insta und Facebook?"

Riesenvorhaben

Sie bedauert, ja betrauert die oft fehlende Solidarität, das fehlende Engagement und eine ausbleibende Revolution. Woran so ein Aufstand der Frauen immer wieder scheitert, genau darüber hat Gertraud Klemm sich selbst jetzt einen Roman geschrieben. Und vielleicht liegt es in der Natur der komplexen Materie, dass er sich an manchen Stellen wie am Reißbrett konstruiert liest, weil es nun einmal ein Riesenvorhaben ist, den Feminismus in seinen vielschichtigen Ausprägungen in einem Roman einzufangen, der uns immer wieder mit wunderbaren Passagen, wilden Widersprüchen und einfühlsamen Momenten beschenkt. Die titelgebenden Einzeller bilden übrigens keine geschlossenen Verwandtschaftsgruppen. Und Vorsicht, Spoiler: Am Ende steht eine Katastrophe, die sich in einer frauenfeindlichen Welt immer öfter ereignet. (Mia Eidlhuber, 4.3.2023)