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Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer will "Lehren aus den Krisen" ziehen und in die Zukunft blicken. Seine Vision möchte er am Freitag im Rahmen einer Rede vorstellen – und dabei "über den Tellerrand dieser Legislaturperiode" schauen. Sieben Denkanstöße, worum es dabei gehen könnte.

1. Das Ende absoluter Herrschaft

Die guten alten Zeiten sind vorbei. Regierende können sich nicht mehr das Land aufteilen und Posten mit Günstlingen anstatt mit den Besten besetzen. In der Theorie ist das klar. Praktisch braucht es kreative Ideen, wie sich staatliche und staatsnahe Gremien und Kontrollorgane künftig zusammensetzen. Da geht es auch, aber nicht nur um die Verhinderung klassischer Korruption. Natürlich muss das Amtsgeheimnis abgeschafft werden, damit der Staat endlich transparenter wird. Natürlich ist es höchst an der Zeit, dass sich die Regierung auf ein Gesetz für Informationsfreiheit einigt. Doch es geht um noch mehr. Politiker und Politikerinnen müssen Übung darin finden, sich zu erklären, ehrlich Fehler einzugestehen und glaubhaft zu machen, dass sie einen funktionierenden moralischen Kompass haben. Das gilt für die tief in Korruptionsvorwürfe verstrickte ÖVP – aber auch für die anderen. Vertrauen lässt sich nicht auf Knopfdruck herstellen, es kann nur gemächlich wachsen.

2. Der nächste Kampf um Rohstoffe

Vor dem Winter ging die Panik um, Wladimir Putin könnte den Gashahn zudrehen. Österreich bezieht sein Gas zu großen Teilen aus Russland – noch immer. Das Risiko der zu engen Verflechtung wurde vor langer Zeit erkannt, aber ignoriert. Eine Lektion aus der Energiekrise lautet: Diversifizierung. Eine andere: Energiewende. Nun werden Photovoltaik und Elektromobilität gefördert. Nur: Woher stammen seltene Erden wie Lithium und Rohstoffe für Batterien und Solarmodule? Aus China, nahezu komplett. Während sich Europa von Russland loslöst, bringt es sich in die nächste Abhängigkeit. Grüne Zukunftspläne sind existenziell, und sie müssen auch geostrategisch gedacht werden.

2022 wurden in Österreich so viele neue Photovoltaikanlagen gebaut wie noch nie. In Österreich steigt der Bedarf an seltenen Erden und Rohstoffen, die für die Energiewende notwendig sind – gedeckt wird er allerdings größtenteils von chinesischen Firmen.
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3. Wer alles ist Österreich?

Karl Nehammer hält das europäische Asylsystem für "gescheitert" – und arbeitet jetzt im Kleinen an eigenen Lösungen. Fakt ist aber: Im Bereich Asyl kann Österreich allein wenig ausrichten, es braucht die EU – etwa für breite Verhandlungen mit außereuropäischen Staaten über Rücknahmeabkommen. Es geht aber nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um Migration. Österreich benötigt Zuwanderung – anders lässt sich der Personalbedarf etwa in der Pflege nicht decken. Die Politik muss einen neuen Zugang zu all dem entwickeln – und ohne Scheuklappen, ohne Vorurteile, dafür mit viel Realitätssinn beantworten: Wer soll gezielt umworben werden? Wem hingegen muss man helfen? Wo stößt Hilfsbereitschaft an Grenzen?

4. Work, Life und die richtige Balance

Globale Lieferketten, neue Technologien, alternde Gesellschaft: Veränderungen der Arbeitswelt erfordern Anpassungen. Etwa Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, aber auch Konzepte, die Flexibilität im Job ermöglichen. Es geht nicht mehr nur ums Geld, es geht auch um Lebensplanung. In Österreich arbeiten so viele Menschen in Teilzeit wie sonst kaum wo in Europa – vor allem Frauen. Wenn sie mehr arbeiten sollen, muss die Politik ideologische Scharmützel beiseitelassen: Warum gibt es zu wenige Kinderbetreuungsplätze? Sind die Steuerstufen bei Löhnen richtig gesetzt? Warum ist Familie immer noch Frauensache? Die Probleme sind bekannt, es braucht systemische Lösungen.

Kinderbetreuung ist in Österreich immer noch allen voran Frauensache. Die Hälfte der Kindergartenplätze ist nicht mit einem Vollzeitjob vereinbar.
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5. Wie progressiv kann Konservativ?

Ja, die Begriffe "konservativ" und "progressiv" sind Gegensätze. Doch auch konservative Politik kann heimattümelnd-altbacken oder ideenreich-modern sein. Die britischen Tories zum Beispiel oder auch skandinavische Konservative sind in vielen gesellschaftspolitischen Fragen aufgeschlossener. Vor allem geht es um Mut zu neuen Ideen. Ex-ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner fordert in ihrem neuen Buch eine "Oma-Karenz". Auch Großeltern sollen offiziell Kinderbetreuung übernehmen können, befindet die 28-Jährige. Bitte mehr Diskussionsstoff!

6. Das Geld unserer Kinder

Krisen sind kostspielig. Österreich hat 2022 um fast 21 Milliarden Euro mehr ausgegeben als eingenommen. Und das, obwohl die Rekordinflation dem Staat auch Rekordeinnahmen bescherte. Finanzschwache Haushalte brauchen Hilfe, wenn das Leben teurer wird. Über das Gießkannenprinzip lässt sich streiten. Klar ist, dass der Staat die "Vollkaskomentalität" ablegen muss. Und sonst? Kommen höhere Steuern? Längeres Arbeiten? Wie sicher sind die Pensionen? Politiker brauchen Mut, Unbequemes anzusprechen – es geht um die Zukunft der Jungen.

Österreich bildet Soldaten aus Nato-Mitgliedsstaaten wie Ungarn oder Tschechien auf heimischen Panzern aus – ukrainische Soldaten, die etwa vom ebenfalls neutralen Irland geschult werden, aber nicht.
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7. Österreich in einer neu gewürfelten Welt

Österreich ist keine politische Macht, auch keine wirtschaftliche, einem Verteidigungsbündnis gehören wir nicht an. Wir wissen also vor allem, was wir nicht sind. Umgekehrt aber ist nicht ganz klar, welche Rolle Österreich auf der Weltbühne spielen will – vergleichbare Staaten wie die Schweiz oder Schweden haben dort ihren Platz gefunden. Der Ukrainekrieg ist eine Zäsur, die Fragen für die heimische Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aufwirft. Und diese Debatte muss ehrlich geführt werden. Auch darüber, wie Neutralität konkret gelebt werden kann. Österreich hat eine lange Tradition als Ort der internationalen Vermittlung. Das ist ein Asset, aber noch keine außenpolitische Position. (Anna Giulia Fink, Katharina Mittelstaedt, 7.3.2023)