Die Inflation wirft viele Zukunftsfragen auf.
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Müssen wir mehr arbeiten, um unseren Wohlstand zu erhalten, und vor allem die Teilzeitarbeit einschränken, wie es Arbeitsminister Martin Kocher vor kurzem angeregt hat? Oder sollen wir die Wochenstunden reduzieren, wie es die Gewerkschaft fordert? Die Debatte über Teil- und Vollzeit ist nur eines der wirtschaftlichen Themen, die derzeit heftiger als sonst diskutiert werden. Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre und die Reaktion der Politik darauf haben zahlreiche Fragen über die Zukunft der österreichischen Wirtschaft aufgeworfen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt. Wir leben in einer Zeit der Widersprüche.

1. Zerstört Automatisierung die Arbeitsplätze – oder fehlt es an Arbeitskräften?

Jahrelang wurde davor gewarnt, dass die Automatisierung einen guten Teil der Arbeitsplätze – im Dienstleistungssektor genauso wie in der Industrie – überflüssig machen und daher in Massenarbeitslosigkeit münden wird. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen war als Antwort auf diese Problematik gedacht.

Doch nun scheint plötzlich das Gegenteil wahr zu sein: Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Tiefststand, und in allen Branchen fehlt es an Arbeitskräften. Das liegt vor allem an der Demografie: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Pension, immer weniger Kinder werden geboren, und die Zuwanderung, die das Loch im Arbeitsmarkt füllen könnte, stößt auf politische Hürden.

Was stimmt denn jetzt? Beide Trends sind real, und die Zukunft des Arbeitsmarktes dürfte auf einen Wettlauf zwischen Automatisierung und Demografie hinauslaufen. Vor allem kurzfristig überwiegt der Arbeitskräftemangel, aber so wie schon mehrfach in den vergangenen Jahren kann das rasch umschlagen, und zumindest in einigen Berufen können die Jobs sehr knapp werden.

2. Müssen wir länger arbeiten – oder doch lieber kürzer?

Das ist die Debatte, die derzeit zwischen Arbeitsminister Kocher und der Wirtschaft auf der einen sowie der Gewerkschaft und einigen Sozialwissenschaftern auf der anderen Seite geführt wird. Kocher und Co verweisen auf den akuten Mangel in so vielen Branchen – und nicht nur in der Gastronomie. Es fehlt an Handwerkern, Industriefachkräften, Lehrerinnen und Pflegern. Softwareentwickler und Buchhalterinnen sind knapp. Zu viele Frauen arbeiten Teilzeit und schmälern damit ihr Einkommen, ihre Aufstiegschancen und ihre zukünftige Pension.

Aber es sind nicht nur fehlende Kinderbetreuungsplätze, die 20- oder 30-Stunden-Jobs attraktiv machen. Der Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance, sei es durch kürzere Arbeitstage oder eine Viertagewoche, ist zu einem Megatrend geworden. Vor allem Jüngere sind bereit, für mehr Freizeit auf Einkommen zu verzichten. Das klingt vernünftig und human und weist auf eine Abkehr von jenem Materialismus hin, der auch das Klima und die Umwelt bedroht. Und gerade, wenn man sich Betriebe in den USA anschaut, wo an langen Arbeitstagen oft recht wenig geleistet wird, sieht man, dass weniger Arbeiten auch gut für die Produktivität sein kann. Allerdings gilt das, wie auch AMS-Chef Johannes Kopf bestätigt, sicher nicht für alle Branchen und Betriebe.

3. Sind die Arbeitskosten zu hoch – oder verdienen die Menschen zu wenig?

Es ist ein echtes Paradox: Österreich hat eines der höchsten Lohnniveaus der Welt, besonders exportorientierte Unternehmen stöhnen unter den hohen Lohnkosten. Und dennoch können sich viele das Leben kaum leisten. Das mag oft an persönlichen Erwartungen für einen angemessenen Lebensstandard liegen, die seit Jahrzehnten wachsen. Gute Umsätze im Handel, volle Restaurants und gut gebuchte Flugreisen deuten auch nicht auf eine Verelendung der Massen hin.

Aber wenn nach Miete, Gas und Strom bei vielen kaum Geld am Monatsende übrig bleibt, dann ist Armut keine statistische Illusion. Diese Kluft zwischen gesellschaftlichem Wohlstand und individueller Not wird in Zeiten hoher Inflation noch akuter. Und so sehr man sich wünschen würde, dass jeder mehr verdient, setzt der internationale Wettbewerb doch enge Grenzen. Und höhere Gehälter münden auch stets in höhere Preise, die den Gewinn wieder auffressen.

Die Wirtschaft gleicht dieser Tage einem Labyrinth, in dem die Politik stets vor kritischen Fragen steht, für die es keine klaren Antworten gibt.

4. Muss Inflation abgegolten werden – oder droht dann eine Lohn-Preis-Spirale?

Wenn es in der österreichischen Wirtschaft ein ehernes Gesetz gibt, dann jenes: Kollektivvertragliche Abschlüsse müssen mindestens die Inflation des Vorjahres abgelten. Das war bei zwei Prozent Teuerung kein Problem, doch bei acht Prozent oder mehr drohen die Abschlüsse selbst zu Inflationstreibern zu werden – die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale, die die Inflation so hochtreibt, bis nur noch eine Rezession die Preisstabilität zurückbringen kann.

So weit ist es in Österreich laut Ökonomen noch nicht. Inflationstreibend seien eher die Staatshilfen gewesen. Reallohnverluste würden den Konsum dämpfen und damit auch die Rezessionsgefahr erhöhen. Sollte aber die heimische Inflation nicht nur im Jänner und Februar, sondern das ganze Jahr an der Spitze der Eurozone liegen, dann drohen der Wirtschaft Wettbewerbsnachteile, die längerfristig wohl wieder durch niedrige Abschlüsse wettgemacht werden müssten.

5. Wird der Wohlfahrtsstaat unleistbar – oder muss das soziale Netz dichter werden?

Kaum ein anderes Land der Welt gibt so viel für Pensionen, Gesundheit, Pflege, Familien und soziale Absicherung aus. Mehr als 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) flossen im vergangenen Jahrzehnt jedes Jahr in Sozialausgaben, der Anteil ist um sieben Prozent gestiegen, die absoluten Ausgaben noch mehr. Vom vielbeschworenen Sozialabbau kann keine Rede sein.

Dennoch weist das soziale Netz viel zu viele Löcher auf, fehlt das Geld im Gesundheitswesen und besonders in der Pflege. Zu viele Pensionistinnen leben an der Armutsgrenze. Fast täglich erschallen Rufe nach höheren Zuschüssen und besseren Leistungen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie lange wir uns diesen Wohlfahrtsstaat leisten können. Denn mit dem Altern der Gesellschaft wächst die Zahl der Empfänger in der Sozialversicherung und sinkt die der Einzahler. Das geht nur bei kräftigem Wachstum und viel Bereitschaft der Jungen, das System zu tragen. Beides ist nicht garantiert.

6. Müssen wir weiter wachsen – oder stoßen wir an Grenzen des Wachstums?

Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sind die Wachstumsraten in den Industriestaaten stetig gesunken, in Österreich von durchschnittlich 4,2 Prozent in den 1970ern und 2,7 Prozent in den 1990ern auf ein Prozent in den letzten zehn Jahren, als Eurokrise, Pandemie und zuletzt die Energiekrise viel Wachstum kosteten. Aus Sicht vieler Ökonomen brauchen wir mehr, um Sozialausgaben, Schuldendienst sowie die notwendigen Investitionen in den Klimaschutz zu finanzieren.

Aber es gibt auch eine andere Perspektive: Wir brauchen ein Wirtschaftsmodell, das nicht auf Wachstum aufbaut, das selbst bei viel ökologischem Bewusstsein immer mehr Ressourcen frisst. So attraktiv das Konzept des "grünen Wachstums" auch klingt: Wenn Menschen weniger konsumieren, um Umwelt und Klima zu schonen, dann kann das BIP nicht weiter wachsen.

7. Sind die Steuern zu hoch – oder braucht der Staat noch mehr Einnahmen?

Mit einer Steuer- und Abgabenquote von rund 43 Prozent liegt Österreich auch in dieser Kategorie nahe der Weltspitze. Der Ruf nach einer Senkung von Steuern geht quer durch die Politik, wobei auf linker Seite auch nach neuen Steuern auf Vermögen sowie hohe Einkommen verlangt wird und im bürgerlichen Lager die Senkung der gesamten Steuerlast sowie der Lohnnebenkosten auf der Wunschliste steht.

Dem steht allerdings der dringende Bedarf an neuen und höheren staatlichen Leistungen entgegen – im Gesundheitswesen, für Bildung und allen voran für Klimainvestitionen. Natürlich könnte man all das finanzieren, indem man bei weniger dringenden und unproduktiven Ausgaben spart, etwa im Föderalismus. Aber das umzusetzen ist politisch schwierig. Und hinter jeder Ausgabe stehen Menschen, die auf dieses Geld zählen und sich gegen Kürzungen und Reformen wehren.

Wegen der Teuerung greift der Staat nun auch Unternehmen unter die Arme. Gut 140 Euro pro Kopf kostet das Hilfspaket jeden Österreicher und jede Österreicherin. Aber viele Betriebe geben ihre hohen Kosten weiter. Was fördern wir hier? Wirtschaftsminister Martin Kocher diskutiert mit Experten.
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8. Ist der Schuldenberg des Staates zu groß – oder ist er kein so großes Problem?

Bei höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollte die Staatsschuldenquote laut EU-Regeln liegen. Österreich hat diesen Wert seit 30 Jahren nicht ein Mal erreicht. Im Vorjahr waren es 78,3 Prozent. In den Jahren, in denen Staaten mit hoher Bonität praktisch keine Zinsen zahlen mussten, war das leicht verkraftbar. Aber mit dem Anstieg der Zinsen wächst auch der Betrag, den der Staat für den Schuldendienst aufbringen muss.

Viele Ökonomen sehen höhere Staatsschulden dennoch als moderates Problem. Es gebe genügend Sparguthaben in der Welt, die sichere Häfen suchten, und gerade die höhere Inflation lasse den Schuldenberg real schrumpfen. Einen raschen Abbau halten sie daher nicht für notwendig, auch ein weiterer Anstieg, etwa zur Finanzierung der Klimawende, wäre keine Katastrophe. Aber: Je höher die Schulden, desto geringer der Spielraum für zukünftige Krisen, etwa eine neue Pandemie. Und irgendwann könnte auch die Bonität Österreichs sinken.

9. Sind teures Öl und Gas eine Gefahr – oder eine Chance?

Macht fossile Energie teurer, um das Klima zu retten, ertönt es seit Jahren von Aktivisten und Ökonominnen. Doch als der Öl- und Gaspreis vor einem Jahr explodierte, freute sich fast niemand. Selbst die Grünen gaben ihr Plazet für Milliardenzuschüsse, um Menschen weiter das fossile Tanken und Heizen zu ermöglichen. In der Industrie wächst die Sorge, dass Europas hohe Energiekosten zur Abwanderung großer Betriebe und einer Deindustrialisierung führen werden. Tatsächlich ist ein Preisschock nicht der beste Weg, um eine Gesellschaft von fossiler Energie zu entwöhnen. Ein langsamer Anstieg, etwa über eine dynamische CO2-Bepreisung, wäre nachhaltiger und sozial verträglicher.

Aber man fragt sich doch, ob die Regierung neben dem Kampf gegen teure fossile Energie deren Chancen genügend nutzt. Wenn Benzinpreise von 1,50 Euro bereits günstig wirken, wäre es fahrlässig, den Preis an der Zapfsäule tiefer fallen zu lassen. Wird genug dafür gesorgt, dass die Übergewinne der Stromversorger in den Ausbau der Erneuerbaren fließen? Erhalten Haushalte genug Hilfe, um sich ihrer Gasthermen zu entledigen? Und werden Betriebe in den Umstieg investieren, wenn sie mit weiteren Energiehilfen rechnen können? Vielleicht werden aus Angst vor den kurzfristigen Folgen gerade langfristige Chancen vergeben.

10. Müssen wir Erneuerbare ausbauen – oder doch Natur und Landschaft schützen?

Bis zum Jahr 2030 soll Strom in Österreich komplett aus erneuerbaren Quellen stammen. Und wenn die E-Mobilität ausgebaut werden soll, werden wir noch viel mehr Strom benötigen. Doch dafür müssten neue Wasserkraftwerke errichtet, Windräder im ganzen Land aufgestellt und große Flächen mit Solarpaneelen bedeckt werden. Gegen all das regt sich Widerstand. Naturschützer bekämpfen jedes neue Wasserkraftwerk, der Westen Österreichs bleibt aus Sorge um das Landschaftsbild praktisch frei von Windrädern, und selbst der Ausbau der Solarenergie stößt auf Hindernisse, sobald es um wirklich große Flächen und nicht mehr um ein paar Dächer geht. Und Atomenergie, der Ausweg für andere Staaten, ist bei uns ein Tabu.

Erneuerbare Energieproduktion ist stets mit Beton und Eingriffen in die Natur verbunden; jeder Einwand gegen ein Projekt hat seine Berechtigung. Aber im Kollektiv gefährden die lokale und regionale Gegnerschaft die Klimapolitik. Die Beschleunigung der Genehmigungsverfahren, die nun beschlossen wurde, ist ein richtiger Schritt. Wenn Österreich seine Ziele erreichen will, braucht es aber mehr – ein Bewusstsein, dass der Ausstieg aus der fossilen Energie nicht ohne schmerzhafte Abstriche gelingen kann.

11. Ging die Globalisierung zu weit – oder ist das Problem der Protektionismus?

Die Globalisierung war der Megatrend der letzten 50 Jahre: Produktionsketten wurden über alle Erdteile ausgeweitet, die Kapitalströme und der Außenhandel wuchsen dramatisch, die gegenseitige Abhängigkeit der Volkswirtschaften nahm zu. Die Politik von Ex-US-Präsident Donald Trump, das Misstrauen gegenüber China und die Lieferkettenkrisen in der Corona-Pandemie haben eine Gegenbewegung ausgelöst. Zum Glück, sagen viele auch in Österreich, die untragbare Arbeitsbedingungen im Globalen Süden, Jobverluste im Norden und den Schaden für Klima und Umwelt beklagen. Auch Österreichs Politik zeigt sich bei neuen EU-Freihandelsabkommen, sei es mit Kanada oder Südamerika, zunehmend skeptisch. Dafür gibt es Argumente. Aber Protektionismus und wirtschaftliche Abschottung sind Entwicklungen, die langfristig unseren Wohlstand gefährden. Denn ohne eine globale Arbeitsteilung werden Volkswirtschaften weniger effizient und produktiv. Und das schlägt sich letztlich im LebensStandard von allen nieder.

12. Bleibt China ein wichtiger Handelspartner – oder ist es eine Bedrohung?

Der Reformkurs Chinas, vor allem seit seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001, hat die Weltwirtschaft mehr verändert als jedes andere Ereignis. Billige chinesische Produkte haben das Leben von Milliarden verbessert, das Wachstum beschleunigt und die Inflation gedämpft, aber auch so manche Industrie in aller Welt zerstört. China ist gerade für Deutschland und damit indirekt für Österreich in den vergangenen Jahren zum wichtigsten Auslandsmarkt geworden. Und ausgehend von den USA, Chinas größtem Handelspartner, wird Peking immer mehr als wirtschaftliche, politische und militärische Bedrohung gesehen. Chinas Präsident Xi Jinping sucht selbst die Entkoppelung. Für Europa ist dies ein Dilemma: Man teilt die Sorgen der USA, will aber China als lukrativen Markt und Partner nicht verlieren.

13. Fällt Europa im globalen Wettbewerb zurück – oder ist es ein Vorbild?

Und was ist die Zukunftsperspektive für die EU im globalen Wettbewerb? Seit Jahren ist das Wachstum hier schwächer als in den USA und Asien. Große Innovationen entstehen anderswo, kein einziger großer IT-Konzern sitzt in Europa. Teure Energie und die ungehemmte Subventionspolitik in den USA und China lassen Betriebe abwandern und die Angst vor der Deindustrialisierung wachsen. Manche Beobachter sehen für Europas Wohlstand schwarz. Aber wenn die Zukunft in einer klimagerechten Wirtschaft mit vernünftigen Regulierungen der Unternehmen, menschengerechten Arbeitsbedingungen und guter öffentlicher Infrastruktur liegt, dann kann die Welt von Europa noch viel lernen. Und dazu gehören auch die heftig diskutierten Fragen von Arbeitszeit und Work-Life-Balance. (Eric Frey, 4.3.2023)