Ein unautorisierter Daten-Leak gewaltigen Umfangs sowie eine brisante Personalie lassen die Kontroverse um die Lockdown-Partys der britischen Regierung unter Premier Boris Johnson wiederaufleben. Am Freitag wetterten Konservative lautstark gegen den Plan des Labour-Oppositionsführers Keir Starmer, die Spitzenbeamtin Sue Gray zu seiner Büroleiterin zu machen. Unterdessen veröffentlicht der "Daily Telegraph" immer neue Whatsapp-Nachrichten aus dem Zentrum der Regierung während der schlimmsten Phase der Covid-Pandemie, als Politiker und Wissenschafter um das beste Vorgehen gegen Sars-CoV-2 rangen. Ein Parlamentsausschuss kündigte für Ende März Johnsons öffentliche Anhörung an.

Nach einer geräuschlosen Karriere in der Londoner Beamtenschaft war Gray (65) zu Beginn des vergangenen Jahres unverhofft zu einer öffentlichen Größe geworden. Nach den damaligen Enthüllungen über zahlreiche Lockdown-Partys in der Downing Street musste der angeschlagene Johnson einer unabhängigen Untersuchung zustimmen; weil der eigentlich zuständige Kabinettssekretär Simon Case selbst im Zwielicht stand, erhielt Gray die schwierige Aufgabe.

Foto: AFP/Akmen

"Versagen von Führungsqualität"

Ihr im Mai veröffentlichter Bericht zeichnete ein verheerendes Bild der Zustände im Zentrum der Macht: Alkoholgelage bis tief in die Nacht, mit Partymüll übersäte Büros, offener Hohn für Sicherheitsbeamte und Putzpersonal, vollgekotztes und beschädigtes Mobiliar. Viele der insgesamt 16 untersuchten Events hätten nicht stattfinden dürfen, konstatierte Gray und sprach von einem "Versagen von Führungsqualität und Urteilsvermögen" an der Spitze. Zuvor hatte bereits die Kriminalpolizei gegen 83 Menschen Bußgelder verhängt, darunter auch gegen Johnson selbst, dessen Frau Carrie sowie den damaligen Finanzminister und heutigen Regierungschef Rishi Sunak.

Sind Grays Ermittlungen und ihr Bericht durch die Bereitschaft, bei Labour anzuheuern, nun entwertet? Oder, so suggestiv gefragt wie das rabiate Boulevardblatt "Daily Mail" am Freitag auf der Seite eins: "Haben wir den Beweis, dass die Lockdown-Untersuchung eine Labour-Verschwörung war?" Gewiss, antworteten treue Gefolgsleute des von der eigenen Fraktion gefeuerten Johnson wie das frühere Kabinettsmitglied Jacob Rees-Mogg. "Eine Verschwörung gegen den Brexit-Premierminister" sieht auch die Ex-Kulturministerin Nadine Dorries.

Intakte Integrität

Unsinn, findet dagegen der frühere Kabinettssekretär Bob Kerslake: "Grays Integrität ist intakt." Schließlich hätten sich auch frühere Premiers, namentlich der Labour-Mann Tony Blair und der Konservative David Cameron, hohe Beamte als Büroleiter geholt. Dabei gehe es weniger um politische Beratung als bürokratische Effizienz und eine genaue Kenntnis der Maschinerie im Regierungsviertel Whitehall.

Wie dort während der Pandemie Politik gemacht wurde, legen Zehntausende von Whatsapp-Nachrichten offen. In deren Mittelpunkt steht der frühere Gesundheitsminister Matthew Hancock, heute 44. Der ehrgeizige Konservative war bisher vor allem dadurch bekannt, dass er einer Kneipenbekanntschaft lukrative Aufträge zur Beschaffung von Schutzkleidung von Masken zuschanzte. Den Hut musste der damals noch verheiratete Hancock nehmen, als ihn eine Überwachungskamera im Ministerium in inniger Umarmung mit seiner Geliebten aufnahm und der Film an die Medien weitergeleitet wurde.

Gage und Rausschmiss

Seither ist Hancock nicht nur im "Dschungelcamp" aufgetreten, was ihm ein sechsstelliges Honorar, aber auch den Rausschmiss aus der Tory-Fraktion einbrachte. Er veröffentlichte auch zur vorbeugenden Entlastung seine "Pandemie-Tagebücher". Als Co-Autorin verpflichtete er ausgerechnet die als Lockdown-Kritikerin bekannte Isabel Oakeshott. Kaum war das Buch veröffentlicht, spielte die für ihre zweifelhaften Scoops berüchtigte Journalistin sämtliches vertrauliches Material dem "Telegraph" zu.

So wissen die Briten nun, dass Johnson nicht zwischen Prozent- und Wahrscheinlichkeitsrechnung unterscheiden konnte; dass Hancock seinen Kabinettskollegen Gavin Williamson für urlaubsreif hielt; dass beide Jungminister tiefe Verachtung für die Lehrergewerkschaft zeigten, welche auf Mund- und Nasenschutz in Klassenzimmern pochte. Schon bisher bekannt war, was nun schwarz auf weiß im "Telegraph" steht: Zu Beginn der Pandemie standen viel zu wenige Covid-Tests zur Verfügung, sodass besonders in Alten- und Pflegeheimen nicht genug getestet werden konnte.

"Erhebliches öffentliches Interesse"

An der Veröffentlichung gebe es "erhebliches öffentliches Interesse", argumentieren die Zeitung sowie Oakeshott selbst, Hancock spricht von einem "massiven Vertrauensbruch". Er habe sämtliche Whatsapp-Nachrichten an die unabhängige Untersuchungskommission weitergeleitet, weshalb von möglicher Vertuschung nicht die Rede sein könne.

Ähnlich sieht das die Leiterin jener Untersuchung: Die pensionierte Höchstrichterin Heather Hallett bat bei einer öffentlichen Anhörung dringend darum, die Ermittlungen ihrer Kommission abzuwarten. Ein erster Bericht soll im Lauf des Jahres erscheinen. Ähnlich lang dürfte es dauern, bis ein Parlamentsausschuss sein Verdikt zur Frage veröffentlicht, ob Johnson das Unterhaus wissentlich belogen hat. (Sebastian Borger aus London, 3.3.2023)