Händeschütteln bei der Eröffnung der Raisina-Dialog-Konferenz in Delhi: der indische Premier Narendra Modi und der russische Außenminister Sergej Lawrow.

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Gut eine halbe Stunde spricht der russische Außenminister Sergej Lawrow bereits. Auch wenn der indische Moderator ihn auf dem Podium immer wieder mit Fragen zu unterbrechen versucht, lässt sich der Russe davon nicht beirren. "Den Krieg in Europa gibt es wegen der Lügen der Nato", sagt Lawrow in Richtung des Publikums. Der russischen Kultur und der russischen Sprache habe im Osten der Ukraine durch die "Nazi"-Regierung in Kiew unter Wolodymyr Selenskyj die komplette Auslöschung gedroht. Deswegen habe Russland sein Militär zur Verteidigung losschicken müssen.

Sturm oder Exodus

Sätze wie diese würden in westeuropäischen Hauptstädten beim Publikum derzeit einen Sturm der Entrüstung auslösen und zum Exodus aus der Veranstaltung führen. Bei der Raisina-Konferenz am Wochenende in Indiens Hauptstadt Neu-Delhi geschah aber nichts dergleichen. Im Gegenteil: Zunächst applaudierte nur ein Grüppchen der Zuhörerinnen und Zuhörer bei Lawrows Ausführungen – sehr offensichtlich von der russischen Botschaft in Indien "platzierte" Gäste. Doch mit der Zeit gab es aus einem Teil des Publikums auch authentischen Applaus für Russlands Außenminister – und mitunter waren sogar die Lacher auf seiner Seite. Wobei Lawrow den Bogen überspannte, als er einmal davon sprach, dass Russland versuche, den "gegen uns lancierten Krieg" zu stoppen: Das kam weniger gut an.

Die Raisina-Konferenz ist eine Art indisches Davos. Auch nach Delhi pilgern jährlich regelmäßig Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker, NGO-Vertreter sowie Unternehmerinnen und Unternehmen, um über Geopolitik und Weltwirtschaft zu diskutieren. Aktuell fungiert Indien als Vorsitzland der G20, also der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, was das Veranstalterland besonders interessant und umworben macht. Lawrows Auftritt in Delhi und die gesamte Raisina standen sinnbildlich dafür, dass weder EU noch USA darüber bestimmen können, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine global wahrgenommen wird.

Ein weit entfernter Konflikt

Als Gast aus Europa überraschte bei den Diskussionen in Delhi, dass der Ukrainekrieg bestenfalls eines von mehreren wichtigen Themen war – neben der Rolle Chinas in der Region, dem Kampf gegen die Armut und der Zukunft der Globalisierung. Einer der Gründe dafür ist schlichtweg, dass in Indien, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde, der Krieg medial eine untergeordnete Rolle spielt. Er ist zu weit weg.

US-Außenminister Antony Blinken: "Wir können schießen und gleichzeitig laufen."
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Wer die Zuhörer der Debatten in Delhi danach fragt, ob in Indien eigentlich viel über den Krieg in Europa diskutiert werde, bekam mitunter die verblüffende Bitte um Präzisierung der Frage: "Der Krieg in Europa? Sie meinen den in der Ukraine?"

Wo die Zukunft liegt

Politisch ist das Land, auch das wurde bei den Debatten klar, mit anderen Dingen beschäftigt. Eine Hauptsorge gilt China, dessen Vertreter traditionell nicht nach Delhi eingeladen waren. So war eine der zentralen Fragen an US-Außenminister Antony Blinken bei der Raisina-Konferenz, wie "abgelenkt" die USA durch die aktuellen Ereignisse in Europa eigentlich seien und ob sie der Region beistehen würden, wenn es darum gehe, China in die Schranken zu weisen. Blinkens Antwort: Nein, man sei nicht abgelenkt. "Für uns liegt die Zukunft im Indo-Pazifik. Außerdem können wir laufen und schießen gleichzeitig."

Blinken und auch die europäischen Vertreter warben in Delhi intensiv um Unterstützung für ihren Kurs gegen Russland. Blinken argumentierte, dass Russland mit seinem Angriffskrieg die internationale Weltordnung, wie sie seit 1945 bestehe, unterminiere. Doch Indiens Vertreter stellten von Außenminister Subrahmanyam Jaishankar abwärts klar: Indien pflege seit vielen Jahrzehnten gute Beziehungen zu Russland und denke nicht daran, das zu ändern.

Blühender Handel

So hat Indien bisher Russlands Krieg gegen die Ukraine im Rahmen der Uno nicht verurteilt, sondern sich bei den Abstimmungen enthalten. Wobei die Inder schon klarstellen, dass sie für ein Ende des Krieges seien und die Souveränität der Ukraine gewahrt bleiben müsse. Sie sind aber nicht dazu bereit, zur Erreichung dieses Ziels Druck aufzubauen.

Im Gegenteil: Der Außenhandel zwischen Indien und Russland floriert. Russland ist zu Indiens viertwichtigstem Handelspartner aufgestiegen. Die Einfuhren aus Russland nach Indien haben sich seit Kriegsbeginn mehr als vervierfacht. Vor allem Erdölimporte nach Indien sind regelrecht explodiert, was daran liegt, dass russisches Öl wegen der Sanktionen des Westens mit Abschlägen am Weltmarkt verkauft wird.

Russlands Außenminister Lawrow sucht bei der Raisina-Konferenz nach freundlich gesinnten Gesichtern im Publikum – und findet solche auch abseits russischer Claqueure.
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Die vermeintliche Neutralität der Gastgeber hatte auch zur Folge, dass in Delhi Vertreter Russlands und der Ukraine direkt aufeinandertrafen – und zwar zu einer hitzigen Diskussion. In einem Panel zur Frage, wie eine friedliche Lösung im Ukrainekrieg aussehen könnte, saß Vlada Galan vom International Ukrainian Crisis Fund, einer NGO, die in Washington Kiews Interessen vertritt. Fast neben ihr platziert: Fjodor Wojtolowsky, Direktor des Primakow-Instituts in Moskau, das zur russischen Akademie der Wissenschaften gehört.

Wojtolowsky fungierte als Sprachrohr des russischen Präsidenten Wladimir Putin: Einen baldigen Waffenstillstand werde es nicht geben, sagte er. Russland sei gerade dabei, den Krieg für sich zu entscheiden. Die Armee sei stabilisiert, verfüge über ausreichend Waffen und Munition, während der Ukraine langsam die Geschoße ausgehen würden. Die Europäer und Amerikaner würden die Ukraine keinen Frieden machen lassen, behauptete Wojtolowsky, sie würden vielmehr billigend in Kauf nehmen, dass Ukrainer sterben, sofern dafür nur Russland geschwächt werde. Wirtschaftlich stehe Russlands sowieso nicht unter Druck, so der Ökonom. Trotz westlicher Sanktionen entwickle sich das Land stabil.

Harte Konfrontation

Was er freilich nicht dazusagte: dass die Sanktionen Russland natürlich den Zugang zu westlichen Technologien versperrt haben, was Moskau wehtut. Auch die Flucht zehntausender junger Russen, um einer Einberufung zu entgehen, dürfte der Wirtschaft langfristig zusetzen.

Die ukrainische NGO-Vertreterin Galan bezeichnete Wojtolowsky Aussagen im Anschluss als Lüge. Die Ukraine sei bereit zu Friedensgesprächen, aber unter zwei Voraussetzungen: Erstens müsste ein kompletter Waffenstillstand in Kraft treten. Zweitens müsse klar sein, dass Friedensverhandlungen ohne Tabus geführt werden. Für die Ukraine würde das bedeuten, dass das Land wohlmöglich auf einen Nato- und EU-Beitritt verzichten müsse. Für Russland womöglich, dass es im Gegenzug sämtliche besetzte Gebiete räume. Dass der Russe hier in Delhi ein Podium bekommen habe, bezeichnete sie als Schande.

Den Zuhörerinnen und Zuhörern gefiel die Debatte. Am Ende gab es Applaus. (András Szigetvari aus Neu-Delhi, 5.3.2023)