Cate Blanchett entfesselt in der Rolle Lydia Társ die Stürme der Konkurrenzgesellschaft: eine lesbische Frau allein gegen den Rest der Welt.

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Nichts und niemand kann Stardirigentin Lydia Tár in die Knie zwingen. Ihr Ich, die Empfindungswelt einer lesbischen Amerikanerin aus einfachsten Verhältnissen, schirmt sie sorgfältig ab: Tár, von Cate Blanchett verkörperte Titelheldin in Todd Fields mehrfach für den Oscar nominiertem Film, bleibt anderen durchaus rätselhaft.

Das größte Enigma ist sie sich selbst. Die Orchestererzieherin amtiert in Berlin. Dort ist tritt sie das Erbe Furtwänglers an, tritt in die Fußstapfen Karajans und Abbados. Alles Männer, die in völlig unterschiedlicher Ausprägung das Genie-Prinzip verkörperten. Jeder von ihnen ein Genius, der mit gebieterischem Blick Rufe der Hörner entgegennahm, der, ganz nach gottväterlicher Weise, Urnebel aus dem Bezirk der Streicher aufsteigen ließ.

Der trügerische Moment der Omnipotenz bildet die natürliche Mitte dieses aus vielfachen Gründen umstrittenen Films. Einstudiert wird der erste Satz von Gustav Mahlers vielstrapazierter 5. Symphonie, und Tár, die das Orchester ohrenbetäubend losschmettern lässt, wird von unten fotografiert. Ihre schmale, unter einer unerhörten Vertikalspannung stehende Gestalt erscheint triumphal überhöht. Mit ihrem Einsatz – der des Orchesters erfolgt im Film Sekundenbruchteile zu früh – hebt nicht bloß Mahlers bekenntnishaftes Werk, sondern überhaupt jegliche Zeitrechnung an.

Tár darf fortan getrost als Göttin unter lauter Gleichen, in akkurat sitzenden Maß-Anzügen, durch hinfällig irdische Bezirke wandeln. Wer ihr von nun an dumm kommt, ist für sie bloß allzu menschlich, oder wird von ihr abgetan. "Woke" Studenten an der Juilliard School, die J.S. Bach schon allein deshalb ablehnen, weil der alte Meister als Cis-Mann die Frauen in seiner Umgebung drangsalierte oder als Gebärmaschinen missbrauchte.

Triumphatorin des Willens

Vor allem aber gebärdet Tár sich als Triumphatorin des Willens. Sie saugt die Arbeitskraft ihrer Assistentinnen aus, sie unterwirft sich alle diejenigen, die zu ihr loyal sind, auch noch erotisch. An diesem Hang zu unbedenklicher, womöglich "männlich" codierter Täterschaft entzündete sich heftiger Widerspruch. Dirigentin und RSO-Leiterin Marin Alsop, wie die fiktive Filmfigur eine vormalige Leonard-Bernstein-Assistentin, fühlte sich nach Genuss des Films "als Frau, als Dirigentin, als Lesbe vor den Kopf gestoßen".

Fields Drehbuch belässt das Rätsel, vor das er die Zuschauerinnen stellt, eindrucksvoll im Ungefähren. Angestachelt vom Schlagen unsichtbarer Metronome, hetzen Dämonen der Einbildungskraft die makellose Taktgeberin durch ein künstliches Berlin. Tár modelliert als Joggerin und Boxerin ihre Fähigkeit, den Anfechtungen einer im Ganzen unwohlwollenden Welt zu widerstehen. Ist diese "Maestro" – "Maestra" darf man unter keinen Umständen zu ihr sagen – nunmehr Opfer oder Täterin?

Der Protest gegen den Film nimmt am exemplarischen Fall einer als toxisch geschilderten lesbischen Frau Anstoß. Gendersensible Mitmenschen weist Tár in die Schranken. Sie sagt: "Sei nicht so sehr darauf aus, beleidigt zu sein. Der Narzissmus kleiner Unterschiede führt zur langweiligsten Konformität." Offensichtlich ist die Persönlichkeit Társ aus der Zeit gefallen. Sie muss mit dem Vorantreiben ihrer Musikkarriere dermaßen beschäftigt gewesen sein, dass sie darüber die Entwicklung des Feminismus verschlafen hat. Trotzig leugnet sie ihre mehrfache Zugehörigkeit zu Gruppen, die aufgrund systematischer Benachteiligung unterdrückt sind: lesbische Frauen, sozial Abgehängte.

Kaltschnäuzige Person

Übrig bleibt sie als ausübende Dirigentin, die den geschweiften Rock ihrer Vorgänger symbolisch aufträgt. Tár steht nicht nur dem Orchester, sondern dem Rest der Welt antipodisch gegenüber. Sie ist und bleibt mutterseelenallein. Diese kaltschnäuzige Person ist ganz bei sich. Zugleich darf sie niemals mit sich, als verletzliche Frau, in Übereinstimmung gelangen.

Offenbar ist es für Menschen, die durch systemische Zwänge ohnehin benachteiligt sind, nicht vorgesehen, aus dem Holz der Täter geschnitzt zu sein. Doch erst an einem solchen negativen Ideal wäre der Grad erreichter Gleichstellung zu messen. Als der große Regisseur Peter Zadek Shakespeares Kaufmann von Venedig inszenierte, steckte er Gert Voss, der den Shylock gab, in das Kostüm eines kühlen jüdischen Wall-Street-Bankers.

Verdutzte Stimmen sprachen von einer antisemitisch missdeutbaren Karikatur. Falsch gedacht, erwiderte Zadek: Von Normalität im Umgang mit Juden werde man erst dann sprechen können, wenn man die "Täterschaft" eines Juden ertrage. Und so müsste, mit Blick auf den Film Tár, sogar der Höllensturz einer lesbischen, taktstockschwingenden Täterin hinnehmbar sein. (Ronald Pohl, 6.3.2023)