12.000 Menschen hatten sich zu den Protesten in Athen versammelt.

Foto: APA / AFP / Louisa Gouliamaki

Athen – Bei einer Protestkundgebung nach dem schweren Zugunglück in Griechenland mit 57 Toten haben sich am Sonntag vor dem Parlament in Athen Demonstranten und Polizei gewaltsame Auseinandersetzungen geliefert. Einige Demonstrierende setzten Mülltonnen in Brand und warfen Molotowcocktails, worauf die Polizei mit Tränengas und Blendgranaten reagierte, wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP beobachteten.

Video: Demonstranten setzten Mülltonnen in Brand und warfen Molotowcocktails. Die Polizei reagierte mit Tränengas und Blendgranaten.

DER STANDARD

Nach Angaben der Polizei hatten sich rund 12.000 Menschen vor dem Parlament zu einer Protestkundgebung versammelt. Sie ließen hunderte schwarze Ballons in den Himmel steigen, um der Toten des Unglücks nahe der Stadt Larissa zu gedenken. Die Demonstranten setzten sich aus Studenten, Bahnangestellten und Mitgliedern von linken Parteien nahestehenden Gruppierungen zusammen. Sie forderten bessere Sicherheitsstandards im Eisenbahnverkehr. "Dieses Verbrechen wird nicht vergessen", riefen sie, als die schwarzen Luftballons aufstiegen. Auf einem Plakat war zu lesen: "Ihre Politik kostet Leben."

Neue Erkenntnisse sorgen für Wut und Unverständnis

Auf der Strecke zwischen Athen und der Hafenstadt Thessaloniki waren am Dienstagabend kurz vor Mitternacht ein Personenzug und ein auf demselben Gleis entgegenkommender Güterzug frontal zusammengestoßen. Es war das schwerste Zugunglück in der Geschichte des Landes und führte zu breitem Protest, bei dem tausende Menschen Versäumnisse bei der Modernisierung des griechischen Schienennetzes anprangerten.

Indes sorgten neue Details, die zu dem Frontalzusammenstoß geführt hatten, landesweit für Empörung. Sie offenbarten Versagen auf ganzer Strecke. Allein der berufliche Werdegang des Bahnhofsvorstehers, der den entscheidenden Fehler gemacht und den Personenzug auf die falschen Gleise geschickt hatte, wirft Fragen auf. Der Mann, der im Laufe des Sonntags erneut befragt werden soll, ist 59 Jahre alt – und hatte erst im vergangenen Jahr seine Ausbildung als Bahnhofsvorsteher begonnen, obwohl die Altersgrenze für die Ausbildung bei 42 Jahren liegt, wie griechische Medien berichten. Zuvor hatte er als Gepäckträger sowie als Bote im Kulturministerium gearbeitet.

Der Mann hätte also gar nicht erst ausgebildet werden dürfen und war Berichten zufolge völlig überfordert. Auch saß er tagelang ohne einen erfahreneren Kollegen auf dem wichtigen Posten am Bahnhof der Stadt Larissa. Nachdem er den Zug auf die falschen Gleise geschickt hatte, soll er elektronische Hinweise und auch Nachfragen sowohl von einem der betroffenen Lokführer als auch einem Bahnhofsvorsteher an einem der nächsten Bahnhöfe ignoriert haben, berichtet "Kathimerini". Minutenlang seien die Züge deshalb ungehindert aufeinander zugerast, bevor es zu dem fatalen Frontalzusammenstoß kam.

Strukturelle Missstände, nicht nur individuelles Versagen

Längst sitzt der 59-Jährige in Untersuchungshaft, er ist unter anderem wegen fahrlässigen Totschlags und fahrlässiger Körperverletzung angeklagt. Doch so schwer die mutmaßlichen Fehler des Mannes wiegen, allein "menschliches Versagen" als Grund für die Tragödie anzugeben greift zu kurz, finden die Menschen.

Unbestritten ist, dass sämtliche Regierungen der vergangenen 20 Jahre die griechische Bahn sträflich vernachlässigten. Dass das elektronische Leitsystem und andere Sicherheitsvorkehrungen nicht oder nur zum Teil funktionierten. Dass die Eisenbahner sich wiederholt bitter darüber beklagt und Änderungen gefordert hatten – nicht nur beim staatlichen Bahnunternehmen OSE, sondern auch beim Verkehrsministerium. Am Sonntag entschuldigte sich Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis dafür in sozialen Medien umfangreich.

Ministerpräsident verspricht Verbesserungen

"Als Ministerpräsident schulde ich allen, vor allem aber den Angehörigen der Opfer, ein großes Entschuldigung – sowohl persönlich als auch im Namen all derer, die das Land jahrelang regiert haben", schrieb Mitsotakis und gestand ein: "Wir können, wollen und dürfen uns nicht hinter menschlichem Versagen verstecken." Der Unfall wäre praktisch unmöglich gewesen, hätte die Elektronik funktioniert.

In seinem Post gelobte Mitsotakis Besserung und versprach die Reparatur des elektronischen Leitsystems, einen Sonderausschuss zu den Versäumnissen der letzten 20 Jahre sowie neue Züge. Die Menschen beruhigt das vorerst nicht: Am Sonntagvormittag versammelten sich erneut Hunderte am zentralen Athener Syntagmaplatz vor dem Parlament, um gegen die Zustände zu protestieren.

Papst Franziskus brachte am Sonntag seine Anteilnahme mit den Opfern und Angehörigen des Zugunglücks zum Ausdruck. "Viele waren junge Studenten. Ich bete für die Verstorbenen, ich bin den Verletzten und Angehörigen nahe", sagte das Kirchenoberhaupt beim sonntäglichen Angelus-Gebet im Vatikan. Und weiter: "Möge die Gottesmutter sie trösten." (APA, red, 5.3.2023)