In seinem Gastkommentar repliziert der Diplomat und Autor Michael J. Reinprecht auf die von Veit Dengler und Rainer Nowak angestoßene Debatte zu Neutralität und Sicherheitspolitik.

Lange unterfinanziert: Heute beschränkt sich die Aufgabe des Bundesheeres nicht nur auf den Katastrophenschutz.
Foto: Christian Fischer

Die durch Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 eingeläutete radikale Zeitenwende bringt hierzulande manche dazu, sich von der Neutralität abzuwenden und nach einer Nato-Mitgliedschaft zu schielen. Allein, Österreich kann auch künftig gut mit seiner militärischen Neutralität fahren, sollte diese aber politisch engagiert führen.

Die von Veit Dengler und Rainer Nowak in ihrem Gastkommentar gezeichnete "paradoxe Intervention" Putins mit einem Raketenangriff auf das neutrale Österreich als Versuch, Europa zu spalten, ohne einen Artikel-5-relevanten Bündnisfall auszulösen, ist Kaffeesudleserei im Nebel der Zukunft und taugt – so verführerisch das Gedankenspiel auch sein mag – nicht, um die sicherheitspolitische Relevanz der Neutralität infrage zu stellen (siehe "Neutralität schützt Österreich nicht").

Konstant beliebt

Dennoch ist es richtig und gut, eine "ergebnisoffene" Diskussion um die Neutralität zu führen. Denkverbote bringen nichts, auch wenn sie in der Gemengelage gegensätzlicher parteipolitischer Positionen im Jahre eins vor den nächsten Nationalratswahlen taktisch verständlich sind. Eine Debatte über die seit 26. Oktober 1955 im Verfassungsrang verankerte "immerwährende Neutralität" muss ja nicht zwingend zur Schlussfolgerung führen, dieses sicherheitspolitische Instrumentarium aufgeben zu müssen. Rein rechtlich ist dieses Verfassungsgesetz mit einer Zweidrittelmehrheit zu kippen. Eine Volksabstimmung ist nicht zwingend erforderlich.

Ist die Neutralität noch "identitätsstiftend", wie kürzlich Europaministerin Karoline Edtstadler betonte, oder nicht? Fakt ist: Die Menschen hierzulande fühlen sich der Neutralität emotional verbunden. Die Zustimmungsrate von mehr als 70 Prozent ist seit Jahren konstant, eine Streichung des Neutralitätsgesetzes ohne Referendum politisch wohl kaum durchsetzbar. Und derzeit auch nicht zu gewinnen.

Die Neutralität schützt nicht, außer "sie ist militärisch so ernsthaft wie die der Schweiz", schreiben Dengler und Nowak. Dieses Argument hat etwas und entspricht ja auch dem, was das Gesetz selbst vorschreibt, wonach sich Österreich verpflichtet, die Neutralität "mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu verteidigen".

"Innerhalb Europas gibt es keine Blöcke, zwischen denen man neutral sein kann." – V. Dengler und R. Nowak im Gastkommentar

In der Tat war das österreichische Bundesheer in den vergangenen Jahren unterfinanziert. Mit dem Aufbauplan 2032 aber will die Regierung das jetzt in den Griff bekommen. Ab 2027 sollen die Verteidigungsausgaben Österreichs 1,5 Prozent des BIP pro Jahr betragen. Damit kann, hört man aus dem Generalstab, "das Bundesheer die Bedrohungslage in den Griff bekommen". Der Vorwurf, das Land sei Trittbrettfahrer, weil auf Verteidigungsleistungen umliegender Nato-Staaten vertrauend, geht also angesichts der Aufrüstung des Bundesheeres ins Leere.

Das nordatlantische Bündnis wäre der "natürliche Hafen, in den auch die anderen Neutralen, Schweden, Finnland, einlaufen", schreiben Dengler und Nowak weiter. Fein. Aber die Geografie spricht eine andere Sprache. Beide Länder stärken die Nordflanke der Nato, Finnland hat zudem eine tausend Kilometer lange Grenze mit Russland. Für Österreich gilt das nicht.

Glaubwürdigkeit und Vertrauen

Im Gegenteil, "unsere" Neutralität neu denken sollte Ergebnis dieser Diskussion sein. Als weiterhin militärisch neutraler Staat könnte Österreich außenpolitische Aktivitäten entfalten, die flexibler sind als jene eines in einem Bündnis verpflichteten Landes. Diesen Mehrwert sollte Österreich nützen. Zum einen kann es mit dem Status eines starken militärisch Neutralen verhindern, in einen neuen kalten Krieg, der sich als Blockkonfrontation zwischen den USA und China abzeichnet, hineingezogen zu werden. Zum anderen kann ein neutraler mittlerer Staat, wie Österreich, Glaubwürdigkeit und Vertrauen gewinnen, die es ihm ermöglichen, eine Plattform für internationale Verhandlungen zu sein, wie es Wien zuletzt 2015 für die Atomverhandlungen mit dem Iran war.

"Aktive Neutralitätspolitik bezieht Position, mischt sich ein."

Engagierte Neutrale können Diplomatie und Vermittlung anbieten, ohne dabei wertneutral zu sein. Auch der Vorwurf mangelnder Solidarität geht ins Leere. Denn aktive Neutralitätspolitik bezieht Position, mischt sich ein: Österreich steht aufseiten der Ukraine, hat 80.000 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen und Hilfsgüter (Generatoren, Feuerwehrfahrzeuge, Medikamente et cetera) in die Ukraine gesandt, ohne sich militärisch – etwa mit Waffenlieferungen – einzubringen.

Michael J.Reinprecht ist Diplomat und Autor. Er war zuletzt Leiter der Nahostabteilung des Europäischen Parlaments in Brüssel und Fellow an der University of Southern California in Los Angeles, schreibt regelmäßig für das Magazin "Nu". Sein Debütroman "Ludwig" ist 2020 im Verlag Löcker erschienen. (Michael J. Reinprecht, 6.3.2023)