Am 24. Februar jährte sich der großangelegte militärische Überfall Russlands auf die Ukraine zum ersten Mal. Der frühere Vier-Sterne-General der U.S. Army, David Petraeus, bilanziert den bisherigen Konfliktverlauf, bewertet die anstehenden Lieferungen von Kampfpanzern an Kiew und äußert sich über ein mögliches Ende des Krieges.

Russlands Präsident Wladimir Putin Anfang Februar beim Gedenken an die Gefallenen von Stalingrad im Zweiten Weltkrieg.
Foto: Konstantin Zavrazhin, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP

STANDARD: Vor gut einem Jahr überfiel Russland die Ukraine. Was ist für Sie die größte Überraschung in diesem Angriffskrieg, den der russische Präsident Wladimir Putin befohlen hat?

Petraeus: In einem Interview mit dem "Atlantic" eine Woche vor dem Beginn der russischen Ukraine-Invasion habe ich vorausgesagt, dass die Truppen Putins die Hauptstadt Kiew niemals einnehmen, geschweige denn kontrollieren würden. Davon abgesehen haben sich die Russen als noch ungeschickter erwiesen als vielfach erwartet, und zwar buchstäblich auf der ganzen Linie. In strategischer Hinsicht, bei der Planung ihrer Militärkampagne, bei der operativen Führung, bei der tatsächlichen Umsetzung ihrer Militäraktionen, bei der Logistik und bei ihrem schockierenden Mangel an taktischem Fachwissen und Training. Zudem haben die Russen ihre Waffen und Kommunikationssysteme nicht auf einen modernen Stand gebracht. Darüber hinaus haben sie die Fähigkeiten des ukrainischen Militärs, die Entschlossenheit des angegriffenen Volkes und die Unterstützung Kiews durch die USA, andere Nato-Länder und westliche Partner völlig unterschätzt.

STANDARD: Das sind gravierende Fehler.

Petraeus: Abgesehen von diesen Defiziten aber verfügt Russland nach wie vor über eine beachtliche Menge an Soldaten, Artillerie, Raketen, Drohnen und anderen Waffensystemen. Und natürlich besitzen die Russen viele Rohstoffe, die es ihnen ermöglichen, Sanktionen und Ausfuhrkontrollen zu umgehen. Allerdings schaffen sie es nicht, sich den Restriktionen völlig zu entziehen.

STANDARD: Haben Putin und seine Generale aus ihrem eigenen Versagen gelernt?

Petraeus: Das ist noch nicht klar. Offen gesagt sind die Mängel so erheblich, dass sie wesentliche Änderungen in der Art und Weise erfordern, wie Russland seine Streitkräfte ausbildet, trainiert, ausrüstet, organisiert, strukturiert, einsetzt und führt. Einiges von dem, was erforderlich ist, ist in der Tat ein echter "kultureller" Wandel, so zum Beispiel die Aufstellung eines professionellen Unteroffizierskorps oder die Förderung der Eigeninitiative auf den unteren Ebenen. Das ist eine Aufgabe, die Jahre in Anspruch nehmen wird und nicht kurzfristig zu bewerkstelligen ist. Sicherlich könnten einige Ausbildungsaufgaben in Monaten erledigt werden, doch scheint Russland nicht bereit zu sein, diese Zeit zu investieren.

"Auf dem Schlachtfeld haben die Russen wahrscheinlich schon jetzt achtmal mehr Verluste erlitten als die damalige Sowjetunion in fast einem Jahrzehnt Krieg in Afghanistan", glaubt der frühere Vier-Sterne-General der U.S. Army, David Petraeus.
Foto: AP Photo/Michal Dyjuk

STANDARD: Wie sehen die wahrscheinlichsten Szenarien für das Ende dieses Krieges aus?

Petraeus: Ich denke, dass der Krieg schließlich in einer Verhandlungslösung enden wird. Das wird kommen, wenn Russlands Führung erkennt, dass der Krieg weder auf dem Schlachtfeld noch an der Heimatfront durchzuhalten ist. Leider kann ich nicht vorhersagen, wann diese Bedingungen gegeben sein werden.

STANDARD: Was meinen Sie konkret?

Petraeus: Auf dem Schlachtfeld haben die Russen wahrscheinlich schon jetzt achtmal mehr Verluste erlitten als die damalige Sowjetunion in fast einem Jahrzehnt Krieg in Afghanistan. An der Heimatfront haben die finanziellen, wirtschaftlichen und persönlichen Sanktionen und Handelsbeschränkungen eine Rezession verursacht. Die Strafmaßnahmen gegen Russland müssen jedoch noch verschärft werden. Wir in den USA und im Westen sollten alles tun, was wir nur irgendwie können, um die Ukraine zu unterstützen und den Tag schneller herbeizubringen, an dem Wladimir Putin erkennt, dass der Krieg in der Ukraine und zu Hause in Russland unhaltbar ist.

STANDARD: Nun bekommen die Ukrainer westliche Kampfpanzer wie den Leopard 2 aus deutscher Produktion und den US-amerikanischen M1A1 Abrams. Kann der Transfer dieser Panzer den Krieg entscheidend beeinflussen, auch wenn die Russen den Ukrainern bei Truppenstärke, Waffen und Ausrüstung weiterhin zahlenmäßig überlegen sind?

Petraeus: Das könnte sein. Zumal die Ukrainer ihr gesamtes Land mobilisiert haben, während die Russen nur teilweise mobilisiert wurden.

STANDARD: In einem Interview sagten Sie, dass ein Kampfpanzer "das Kernstück ist, um das herum alles andere aufgebaut wird". Sind die Ukrainer in der Lage, den Kampfpanzer in enger Kooperation und Abstimmung mit anderen Truppengattungen und Waffensystemen einzusetzen? Beherrschen sie also das sogenannte Gefecht der verbundenen Waffen?

Petraeus: Die Ukrainer trainieren schon seit geraumer Zeit für solche Aufgaben, und ich bin zuversichtlich, dass sie in der Lage sein werden, "alles zusammenzufügen", das heißt, alle Waffen wirksam zur gegenseitigen Unterstützung einzusetzen. Panzer sind kein Relikt der Vergangenheit, wenn sie richtig eingesetzt werden – das heißt, wenn sie zusammen mit Infanterie, Pioniere, Artillerie, elektronischer Kriegsführung, Luftabwehr, Minenräumern, Drohnen zum Einsatz kommen.

STANDARD: Den Ukrainern fehlen Kampfjets, Kampfhubschrauber und Raketensysteme. Die Führung in Kiew verlangt von ihren westlichen Partnern vehement die Lieferung dieser Kriegsgeräte. Befürworten Sie den Transfer von Militärflugzeugen, Helikoptern und Raketen?

Petraeus: Ich unterstütze die Bereitstellung westlicher Kampfflugzeuge, Kampfhubschrauber und Raketen mit längerer Reichweite für die Ukraine. Wir waren bisher immer wieder übervorsichtig.

STANDARD: Seit Beginn des Krieges haben Präsident Putin und sein Regime mit Atomwaffen gedroht. Besteht die Gefahr, dass eine weitere Zunahme der westlichen Waffentransfers zu einer unvorhersehbaren Eskalation des Krieges und schließlich zu einem russischen Nuklearschlag führen?

Petraeus: Das Risiko ist nicht von der Hand zu weisen – ich glaube jedoch, dass die USA und andere Länder dem Kreml wirksam zu verstehen gegeben haben, dass die Folgen für Russland "katastrophal" wären. Diese Warnungen haben die Risiken ausreichend gemildert. (Jan Dirk Herbermann, 7.3.2023)