Für ein Mal scheint Frankreich im politischen Ideenwettstreit nicht führend zu sein. Mit der geplanten Erhöhung des Pensionsalters von 62 auf 64 Jahre hinkt Präsident Emmanuel Macron vielen EU-Staaten hinterher. Und während die meisten bei einem Pensionsalter von 65 Jahren angelangt sind, wollen die Französinnen und Franzosen, die seit Jänner millionenfach gegen die Reform auf die Straße gehen, nicht einmal die 64 Jahre schlucken.

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DER STANDARD

Doch halt: "Wir sind keine faulen Gallier", notierte Ségolène Royal unlängst in einem Zeitungsbeitrag. Und die sozialistische Ex-Präsidentschaftskandidatin hat nicht unrecht: Aufs Jahr gerechnet liegen die Franzosen (1.520 Stunden) vor den Deutschen (1.360 Stunden). Gewiss arbeiten sie aufs Leben gerechnet weniger lang: Sie starten vergleichsweise spät in den Beruf, arbeiten pro Woche nur 35 Stunden und gehen statistisch früh in den Ruhestand.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron findet, in Frankreich müsse länger gearbeitet werden. Viele Franzosen und Französinnen sehen das anders und protestieren gegen die geplante Reform.
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Macron begründet seine Reform deshalb mit der simplen Feststellung: "Wir müssen mehr arbeiten." Früher seien vier Erwerbstätige auf einen Pensionisten gekommen, heute seien es nur noch 1,7 Aktive. Budgetminister Gabriel Attal brachte es auf den Punkt: "Pensionsreform oder Staatspleite."

Die Gegenseite sieht es anders: "Wenn die Firmen ihre Senioren systematisch ausrangieren und in die Frühpension verbannen, wie es in Frankreich gang und gäbe ist, bringt es nichts, das Pensionsalter zu erhöhen", erklärt Philippe Martinez von der Gewerkschaft CGT. Außerdem sei das Pensionssystem gar nicht defizitär, fügt der Boss der mächtigsten Arbeitnehmerorganisation im Land an.

Frage der Gerechtigkeit

Das wiederum bestreitet der Unternehmerverband Medef: Der Fehlbetrag existiere durchaus, nur werde er bewusst verdeckt. Die Staatskasse subventioniere die Beamtenpensionen mit 30 Milliarden Euro im Jahr, ohne dies klar auszuweisen. Ein Arbeiter zahle also doppelt – mit seinen Steuern für die Angestellten des öffentlichen Dienstes, mit seinen Beiträgen für die eigene Pension. Das sei ungerecht.

Ungerecht: ein großes Wort, das die ganze Debatte überlagert. Laurent Berger von der gemäßigten Gewerkschaft CFDT wird nicht müde vorzurechnen, dass Arbeiter und Handwerker durch die Erhöhung des Pensionsalters ungerecht behandelt würden: 20 Prozent von ihnen seien schon tot, bevor sie auch nur das Alter von 64 erreichten. Bei den Büroangestellten haben dann erst fünf Prozent das Zeitliche gesegnet. Das sei ein Skandal, schimpft Berger, sonst eher ein ruhiges Temperament.

Überschuldetes Pensionssystem

Die Gegenseite fragt dagegen: Ist es gerecht, wenn die Boomer heute mit 62 früh und bequem in Pension gehen, der nächsten Generation aber ein hoffnungslos überschuldetes Pensionssystem hinterlassen? Dieses Argument vertritt auch Premierministerin Elisabeth Borne, die von der Linken kommt. Ihr früheres Lager argumentiert dagegen, Mütter mit oftmals fehlenden Beitragsjahren würden durch die Reform finanziell benachteiligt. Die liberale Zeitung "L'Opinion" findet dagegen, die Männer seien die heimlichen Verlierer der Reform, da ihre Lebenserwartung und damit ihr Ruhestand vier Jahre kürzer ausfielen als bei Frauen.

Arbeiten hat für so manche Bürger und Bürgerinnen während der Covid-Pandemie an Attraktivität verloren. Das gilt auch in Frankreich.
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Vielen Franzosen will etwas nicht in den Kopf: Während der Covid-Zeit, aber auch danach hat der Präsident mit der Devise "Koste es, was es wolle" dreistellige Milliardenbeträge in die Wirtschaft gebuttert. Und jetzt sollen die kleinen Beitragszahler wegen eines Fehlbetrags von ein paar lausigen Milliarden zwei Jahre länger arbeiten?

Gewiss, den Pensionsbankrott wollen beide Seiten verhindern. Aber nicht auf die gleiche Weise. Nicht die Arbeiter mit chronischen Altersleiden sollten länger arbeiten – vielmehr müssten die gesünderen und betuchteren Bürger mehr beisteuern, fordert Thomas Piketty. Der Autor von "Das Kapital im 21. Jahrhundert" fordert eine Umverteilung im Pensionsbereich wie mit der Steuerprogression: Die Reichen müssten sich mit höheren Beitragssätzen erkenntlich zeigen.

Höhere Mindestpensionen

Premierministerin Borne strebt die Gerechtigkeit aber nicht von oben an, sondern von unten her: Ihre Reform hebt die Mindestpensionen schon von 960 auf 1.200 Euro im Monat an. Macht das die Reform gerechter? Sicher ist: Die Regierung ist erst jetzt, unter dem Druck der Straße, zu Zugeständnissen bereit, die ihr offenbar früher nicht in den Sinn gekommen wären. Kürzlich hat Borne zum Beispiel das Pensionsalter für Leute, die schon mit 20 ins Arbeitsleben eingestiegen sind, auf 63 Jahre gesenkt.

Oft mutet die Debatte über den hehren Begriff der Gerechtigkeit fast schon buchhalterisch an. Aber nicht immer. Vielen Franzosen geht es auch um ihr Savoir-vivre – also jene Lebenskunst, die sich nicht am Bürotisch oder Fließband verwirklicht. "Das Leben verpassen beim Versuch, es sich zu verdienen", lautet eine Kritik an der Macron-Reform, zu lesen auf zahlreichen Demo-Transparenten.

Recht auf Glück

Diese Ansicht ist in Frankreich seit der Covid-Zäsur sehr weit verbreitet: Das Arbeiten vermittelt keinen Lebenssinn mehr, es hat an Attraktivität verloren. Bei einer Pariser Kundgebung trug ein Mädchen auch die Inschrift vor sich her: "Alles, was wir wollen, ist, glücklich zu sein." Naiv? Nein, die junge Frau, die das "Recht auf Glück" in Anspruch nimmt, reckte dazu aufmüpfig die Faust. Und in diesem Kampf ist Frankreich immer noch führend. (Stefan Brändle, 7.3.2022)