Während die EU, die USA und andere westliche Industrieländer laufend ihre Sanktionen gegen Russland nachschärfen, zieht ein großer Teil der übrigen Welt dabei nicht mit. In Doha treffen sich gerade Außenminister und Regierungschefs dutzender Länder zu einer Uno-Konferenz über die Lage der ärmsten Länder der Welt. Die Europäer, darunter auch Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), versuchen dabei auch für ihren Standpunkt im Ukrainekrieg zu werben.

STANDARD: Eine Petition von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht sorgt derzeit für heftigen Streit. Im Aufruf werden Waffenlieferungen an die Ukraine abgelehnt und stattdessen Verhandlungen mit Russland gefordert. An dieser Position gibt es viel Kritik. Wie sehen Sie die Debatte?

Schallenberg: Bei aller Emotionalität darf es keine Diskussions- und Denkverbote geben. Gerade dass wir frei diskutieren können, zeichnet pluralistische Demokratien aus und unterscheidet uns von Wladimir Putin und seinem System. Wir dürfen nicht den Fehler begehen und so tun, als wäre nur eine Meinung zugelassen. Das gesagt habend, ist auch in internationalen Konflikten alles eine Frage des Timings. Ich hoffe sehr, dass sich wieder eine Situation einstellt, in der es Raum für Diplomatie gibt. Noch sind wir aber nicht dort. Russland sucht die Entscheidung am Schlachtfeld, und es wäre sehr gefährlich zu sagen, die Ukraine muss um des Friedens willen nachgeben und auf gewisse Teile ihres Territoriums verzichten. Völlig klar ist für mich: Es kann keine Entscheidung über die Ukraine ohne die Ukraine geben.

STANDARD: Die Briefschreiber als Putin-Versteher abzutun, wie das mitunter geschah, halten Sie aber für falsch, wenn ich das richtig heraushöre?

Schallenberg: Was uns am meisten fehlt, ist Rationalität. Ich bin öffentlich für Augenmaß eingetreten und habe gesagt, wir dürfen nicht 144 Millionen Russen unter Sippenhaftung stellen und über sie Einreiseverbote nach Europa verhängen. Es hat mich nachdenklich gestimmt, dass mir das schon als "mutige Aussage" ausgelegt wurde. Damit kein Zweifel aufkommt: Wir unterstützen ohne Wenn und Aber die Ukraine beim Kampf zur Wiederherstellung ihrer territorialen Souveränität und Integrität. Russland begeht brutale Verletzungen aller Grundprinzipien der Uno-Charta. Aber wir dürfen nicht jegliche Brücke, jeglichen Dialogkanal abbrechen, und wir werden, wenn die Zeit reif ist, auch Plattformen für Gespräche brauchen, etwa die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

STANDARD: Sie sprechen die umstrittene Visavergabe an russische Diplomaten für eine OSZE-Tagung Ende Februar durch Ihr Ministerium an.

Schallenberg: Ja. Wir sind völkerrechtlich dazu verpflichtet, das ist also keine Frage des Wollens. Und wenn wir uns anschicken und sagen, wir verteidigen gerade die Grundprinzipien der europäischen und globalen Sicherheitsordnung und das Völkerrecht, dann können wir nicht selber unsere Position unterminieren, indem wir genau dieses Recht nur selektiv anwenden.

STANDARD: Ist Österreich nicht einfach deshalb in den Fokus der Kritik geraten, weil wir sehr lange sehr enge Beziehungen zu Russland hatten? Und noch immer haben? Die Raiffeisen Bank International ist eine der wenigen noch in Russland verbliebenen westlichen Banken. Die RBI macht gute Geschäfte dort.

Schallenberg: Da muss man die Fakten betrachten: Laut einer Studie der Universität St. Gallen haben sich erst weniger als zehn Prozent der internationalen Unternehmen vom russischen Markt zurückgezogen. Man tut immer so, als sei nur eine Bank oder ein österreichisches Unternehmen dort geblieben. Das ist falsch. Zweitens ist diese Bank nicht nur in Russland aktiv, sondern auch in der Ukraine eines der größten Geldhäuser. Das Leben ist nicht schwarz-weiß. Ich habe Kontakt mit der RBI, die selber letztlich die Entscheidung treffen muss, wie sie sich hier verhält. In meinen Augen hat die Bank bisher vernünftig agiert, indem sie abwartet, wie sich die Situation weiter entwickeln wird, während alle Szenarien geprüft werden.

Die Raiffeisen Bank International ist neben der italienischen Unicredit das letzte noch verbliebene westliche Geldhaus in Russland. 2022 erwirtschaftete die RBI 3,6 Milliarden Euro Gewinn. Gut 60 Prozent davon trug die Russland-Tochter mit ihren 3,2 Millionen Kundinnen und Kunden bei.
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STANDARD: Hunderte westliche Unternehmen wie McDonald's sind aber weggegangen. Die RBI macht dagegen in Putins Land Rekordgewinne. Ist das vertretbar?

Schallenberg: Meines Wissens wird die RBI von vielen westlichen Staaten und Unternehmen zur Abwicklung der verbliebenen Geschäftstätigkeit verwendet. Kein Vorstand irgendeines westlichen Unternehmens tut sich da leicht. Wenn 90 Prozent aller westlichen Unternehmen weiterhin vor Ort sind, nur eines herauszugreifen und mit dem Finger auf es zu zeigen, um ein Exempel zu statuieren, halte ich für nicht zielführend. Es gibt Stimmen in Europa, die eine komplette Abkoppelung von Russland wollen. Wir sollten vorsichtig sein, was wir uns wünschen. Russland wird nicht verschwinden, sondern der größte Nachbar der EU bleiben. So zu tun, als könnte man das Land wirtschaftlich so isolieren wie Nordkorea, ist ein Irrglaube. Das geht schlichtweg nicht.

STANDARD: Die US-Sanktionsbehörde OFAC nimmt die Bank ebenfalls ins Visier und hat sie aufgefordert, Details zu ihrem Russland-Geschäft zu nennen. Sie waren kürzlich in Washington: Gibt es politischen Druck der Amerikaner?

Schallenberg: Ich wurde noch von keinem einzigen Vertreter eines anderen Staates darauf angesprochen. Die Debatte hat bis jetzt nur im medialen Bereich stattgefunden.

STANDARD: In Europa herrscht mitunter der Eindruck, die ganze Welt habe Sanktionen gegen Russland erlassen. Tatsächlich sind es nur rund 40 Staaten gewesen. Wieso haben so viele Länder einen anderen Blick auf den Konflikt?

Schallenberg: Das ist eine der zentralen Fragen, die uns in diesem Jahr beschäftigen sollten. Europas Standpunkt wird von einem Großteil der Länder nicht verstanden und nicht nachvollzogen. Das habe ich auch bei meinen Gesprächen hier in Katar erlebt. Manchmal wird uns der Vorwurf gemacht, wir würden mit zweierlei Maß messen: Ihr regt euch jetzt auf, wo es um Europa geht, aber wo wart ihr bei den anderen Konflikten?

STANDARD: Was antworten Sie dann?

Schallenberg: Dass es das letzte Mal der Irak unter Saddam Hussein war, der einen anderen Staat mit dem Ziel überfallen hat, sich diesen einzuverleiben. Die internationale Gemeinschaft hat damals mit einer Sicherheitsratsresolution das Vorgehen verurteilt und Kuwait befreit. Der andere Vorwurf lautet, dass europäische Staaten selbst einst Kolonialmächte waren. Fehlverhalten der Vergangenheit rechtfertigt aber kein Fehlverhalten in der Gegenwart. Wir müssen uns in Europa bewusst sein, dass Russlands Narrativ in Afrika erfolgreich ist. Sie sagen, dass der Westen schuld daran sei, dass die Preise für Öl, Gas und Lebensmittel überall gestiegen sind – wegen der Sanktionen. Dass Russland mit so einer absurden Verkehrung der Tatsachen durchkommt, sollte uns zu denken geben.

STANDARD: Inwiefern?

Schallenberg: Wie kann es sein, dass wir als europäische Staaten zwar die größten Geber von Entwicklungsgeldern sind, es aber nicht schaffen, das in Soft Power und politisches Gewicht umzumünzen? Vermutlich sind wir einfach nicht gut darin, eine gemeinsame Story zu erzählen.

STANDARD: Wenn nun ein großer Teil der Staaten, darunter auch Länder wie China und Indien, die Sanktionen nicht mittragen: Können wir damit Russland überhaupt schaden?

Schallenberg: Wenn wir nur nach der Anzahl der Länder gehen, ist es richtig, dass nur eine Minderheit die Sanktionen mitträgt. Geht es aber nach der Wirtschaftsleistung, dann repräsentieren diese Länder 60 bis 70 Prozent der globalen Wertschöpfung. Russland spürt das natürlich. Allein die Sanktionen im Bereich des Bankenwesens und des Zahlungsdienstleisters Swift sind für Moskau enorm. Sie brauchen nicht so sehr den Zugang zum Finanzmarkt von Kampala, sondern zu jenen von London, New York und Frankfurt.

Außerhalb westlicher Industrieländer gibt es wenig Unterstützung für die Sanktionen gegen Russland.
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STANDARD: Wie geht es mit dem Ukrainekrieg weiter?

Schallenberg: Wir müssen davon ausgehen, dass der Krieg weitergehen wird, dass beide Seiten versuchen werden, Frühjahrsoffensiven zu starten. Es ist zu befürchten, dass noch nicht alle Eskalationsstufen erreicht sind. Es ist blanker Wahnsinn, dass der Präsident der Russischen Föderation immer wieder mehr oder weniger unverhohlen mit der nuklearen Keule wackelt.

STANDARD: Was machen Sie aus diesen atomaren Drohungen?

Schallenberg: Das bestärkt mich darin, dass unser Ansatz in Österreich, wonach diese Waffen endgültig und überall verboten gehören, richtig ist. Solange es sie gibt, wird irgendjemand damit drohen. Das zeigt auch den Grad an Verantwortungslosigkeit der russischen Führung. (András Szigetvari, 6.3.2022)