Atomkraft: "Nein danke" oder "Ja bitte"? Die Meinungen zu dieser Frage gehen in der Klimabewegung auseinander.

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Finnland hat sich hohe Ziele gesteckt. Bereits 2035 will das Land klimaneutral sein. Um das zu erreichen, setzt die finnische Regierung einerseits auf Wälder, die massiv CO2 speichern, andererseits stark auf Atomenergie. Derzeit produzieren vier Reaktoren an zwei Standorten Energie. Ein weiterer Reaktorblock ist gemeinsam mit dem weltweit ersten Endlager für hochradioaktive Abfälle auf der Insel Olkiluoto in Bau. Und das mit breiter Zustimmung der Bevölkerung.

Das mag aus österreichischer Perspektive durchaus überraschen. Immerhin herrscht hierzulande starke Skepsis gegenüber Kernenergie. Nicht so in Finnland. Dort unterstützt sogar die Klimaschutzbewegung Fridays for Future Finnland die Energiegewinnung mit Kernkraftreaktoren. Kernkraft sei zwar nicht die perfekte Weise, Energie zu erzeugen, aber die Emissionen dafür seien niedrig. CO2 stelle eine viel größere Gefahr dar als Atommüll und beschleunige die Erderwärmung. "Daher akzeptieren wir Atomenergie als Teil des Energiemix", heißt es auf ihrer Website.

Auch in Polen sprach sich Fridays for Future im Vorjahr für die Kernkraft aus. In einem Facebook-Posting forderten sie die Europäische Kommission und das Europäische Parlament auf, die Kernenergie als nachhaltige Energiequelle in der damals noch nicht beschlossenen EU-Taxonomie anzuerkennen. Sie stelle ein "notwendiges Element der Lösung" dar. Man sei sich der Nachteile der Technologie bewusst, doch ihr Einsatz sei unerlässlich, um die Klimaneutralität in Europa zu erreichen. Polen plant schon seit längerem einen Atomeinstieg. Im Oktober hat die Regierung den Auftrag zum Bau der drei ersten Kernreaktoren an der Ostsee vergeben. 2033 sollen sie in Betrieb gehen.

Atomkraft als notwendiges Übel

Auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg hatte in den vergangenen Jahren eine differenzierte Meinung in puncto Kernkraft. Im Jahr 2019 verwies sie in einem Facebook-Beitrag auf den Weltklimarat IPCC, laut dem Kernenergie einen kleinen Beitrag zur Energiewende leisten könne. Sie betonte darin aber, dass sie persönlich gegen Kernenergie sei und diese für "viel zu gefährlich, zu teuer sowie zu zeitaufwendig" halte. Prinzipiell weist die Aktivistin darauf hin, dass es andere Wege für die Zukunft gebe, nämlich die erneuerbaren Energien.

Für ein Aufhorchen sorgte sie, als sie sich im vergangenen Herbst zur Atomenergie in Deutschland äußerte. Wenn die Atomkraftwerke schon laufen würden, halte es Thunberg für einen Fehler, sie abzuschalten und sich stattdessen Kohle zuzuwenden. Die Debatte sei aber sehr aufgeheizt, sagt sie in einem Fernsehinterview. Die deutsche Bundesregierung hatte kurz zuvor beschlossen, zwei Atomkraftwerke als Notfallreserve beizubehalten und erst kommenden April endgültig stillzulegen.

Die Regierung in Thunbergs Heimatland Schweden rechnet damit, dass irgendwann in den 2040er-Jahren das letzte AKW vom Netz gehen wird. Schweden hat sich zwar 1980 für den Ausstieg aus der Atomenergie entschieden. Allerdings vereinbarten die wichtigsten politischen Parteien 2016, die sechs existierenden Reaktoren am Netz zu belassen. Erst im Vorjahr gab die schwedische Regierung grünes Licht für ein Atommüll-Endlager.

Neubauer: Debatte drängt Erneuerbare in den Hintergrund

In Deutschland spricht sich die FFF-Bewegung grundsätzlich gegen die Atomenergie aus. In einem Beitrag auf ihrer Website betont sie, weiter daran festzuhalten, dass die Zukunft "nicht nuklear ist". Als Grund nennt sie nicht nur die Gefahr von Unfällen, sondern etwa auch den Wasserverbrauch, der für die Erzeugung von Atomstrom nötig sei. Zudem behindere die Atomdebatte den Ausbau erneuerbarer Energien wie Solar- und Windkraft. Die Organisation kritisierte außerdem die Entscheidung der EU im Vorjahr, Atomkraft als nachhaltige Investition einzustufen.

Anlässlich der Debatte um die Laufzeitverlängerung bestehender Atomkraftwerke sagte die deutsche FFF-Aktivistin Luisa Neubauer zum Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Im allerschlimmsten Fall wird man die Atomenergie jetzt vielleicht noch nutzen müssen." Sie kritisierte jedoch, dass die erneuerbaren Energien wie Solar- und Windkraft in den Hintergrund geraten. Auch in der ZDF-Sendung von Markus Lanz betonte sie, dass die Atomkraft die Energiekrise nicht lösen werde, und warnte davor, von der "extrem gefährlichen Technologie Kohlekraft auf eine andere sehr gefährliche Energie, nämlich Kernkraft, auszuweichen".

Nicht nur Fridays for Future, auch der deutsche Ableger von Extinction Rebellion, der sich mit Mitteln des zivilen Widerstands für Klimaschutzmaßnahmen einsetzt, spricht sich gegen die Kernenergie aus. "Für uns ist die Atomkraft dauerhaft keine Lösung", sagt eine Sprecherin zum STANDARD. Mit den erneuerbaren Energien würden längst Lösungen auf dem Tisch liegen, die man bisher "auf die lange Bank" schiebe.

In Österreich einer Meinung

Ähnlicher Meinung sind Fridays for Future, Letzte Generation und Co in Österreich. Das zeigt ein Rundruf des STANDARD. Die Organisationen blasen in das gleiche kernkraftfreie Horn wie die Mehrheit der Bevölkerung. Sprich, auch sie sind dagegen.

Für die Klimaaktivistin Lena Schilling ist Atomenergie nicht die Lösung. Die Gründerin des Jugendrats, der sich vor allem für Klimathemen einsetzt und auch die Besetzung der Lobau in Wien organisiert hat, ist überzeugt, dass Atomkraftwerke dann Sinn machen, wenn man Zeit hat. "Die haben wir im Kampf gegen die Klimakrise aber nicht", sagt Schilling.

Für Atomkraftwerke hat Österreich nicht genug Zeit, sagt die Klimaaktivistin Lena Schilling.
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Daher sei Atomkraft keine Option in Österreich. Stattdessen sollten erneuerbare Energien ausgebaut werden. Während Wasserkraft bereits am Limit sei, seien Wind- und Solarkraft sowie Geothermie noch nicht gut ausgebaut. Das liegt laut Schilling vor allem an den Landeshauptleuten, die sich querstellen. Das zeige deren Doppelmoral. "Im Wahlkampf heften sich alle den Klimaschutz auf die Fahnen, aber wenn es dann darum geht, etwas umzusetzen, geschieht nichts", sagt Schilling.

Auch die Letzte Generation schlägt mit ihren Äußerungen in dieselbe Kerbe. Da nicht einmal einfache Forderungen wie Tempo 100 umgesetzt würden, sei die Diskussion rund um Atomkraft ohnehin eine reine Scheindebatte, sagt Florian Wagner, Sprecher der Letzten Generation. Er betont auch, dass laut einer Erhebung der Internationalen Energieagentur (IEA) der Bau von Photovoltaikanlagen aktuell die günstige Variante sei, um Energie zu erzeugen.

Fridays for Future sieht keinen finanziellen Vorteil

Fridays for Future nimmt hierzulande ebenfalls eine andere Position ein als die Aktivistinnen und Aktivisten in Finnland und Polen. Auf Atomenergie zu setzen mache in Europa keinen Sinn. Michael Spiekermann, Pressesprecher von Fridays for Future, sagt: "Die Risiken und Nachteile, die Atomkraft bringt, wiegen für unsere Gesellschaft schwerer als die geringeren CO2-Emissionen im Vergleich zu Kohlekraftwerken."

Der Bau der Kernkraftwerke sei auch teurer. Die Kosten für den Reaktorblock auf der finnischen Insel Olkiluoto hätten sich seit Baubeginn vervierfacht. Allein aus einer reinen Kostenfrage heraus sei ein derartiger Bau keineswegs sinnvoll. Daran könne auch die Taxonomie nichts ändern. "Nur weil Atomkraft als grüne Energie anerkannt wird, werden nicht mehr Staaten Atomkraftwerke bauen", sagt Spiekermann.

Was die Kosten betrifft, kommt auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Rahmen einer Erhebung zu dem Schluss, dass die Investition in ein AKW privatwirtschaftlich stets unrentabel ist – und zwar unabhängig von zukünftigen Strompreisen und Kapitalkosten. Der erwartete Verlust liegt demnach in Milliardenhöhe.

Verfechter betonen Vorteile

Die Atomenergie bleibt bis heute umstritten. Befürworter sehen die Kernenergie als Lösung für die Klimakrise – oder zumindest als Brückentechnologie, bis Europa vollständig mit erneuerbaren Energien läuft. Aus den Kühltürmen strömt immerhin nur Wasserdampf und kein schädliches CO2. Ganz klimaneutral ist allerdings keine Energieform, auch die Kernkraft nicht.

Der Weltklimarat schätzt die CO2-Emissionen pro Kilowattstunde Atomenergie auf rund zwölf Gramm, in etwa so viel wie bei Windenergie. Letztere produziert keinen Atommüll, dafür aber auch keinen Strom bei Windflauten. Mehr noch als den geringen CO2-Fußabdruck heben Atomkraftverfechter deshalb hervor, dass Nuklearreaktoren grundlastfähig sind, während die Speicherfrage bei erneuerbaren Energien noch großteils ungelöst ist.

AKWs stoßen vergleichsweise wenig CO2 aus und sind grundlastfähig. Radioaktiver Atommüll, hoher Wasserverbrauch und lange Bauzeiten bleiben jedoch die Kehrseiten von Atomenergie.
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Ungelöstes Atommüllproblem, lange Bauzeit

Doch AKWs haben auch ihre Kehrseiten. Das größte Problem bleibt der Atommüll, der über Jahrtausende hinweg gefährliche radioaktive Strahlung abgibt. Die Suche nach Endlagern gestaltet sich mitunter schwierig. Zudem sind auch AKWs nicht gegen Umwelteinflüsse gefeit. Im vergangenen Sommer traten in Reaktoren in Frankreich technische Probleme auf, denn viele Flüsse führten wegen Hitze und Trockenheit weniger Wasser, das die Kraftwerke zur Kühlung brauchen. Und davon gar nicht so wenig: Im Vergleich zu den anderen Energiequellen verbraucht die Kernenergie "überdurchschnittlich viel Grundwasser und Oberflächengewässer", schreibt das Klimaschutzministerium in einer Studie. Damit werde die Kernkraft anfällig für den Klimawandel, der Grundwassermengen schwinden lässt.

AKWs zu bauen nimmt außerdem viel Zeit in Anspruch. In manchen Fällen kann es Jahrzehnte dauern, bis ein Kraftwerk den Betrieb aufnimmt. Der dritte Reaktorblock des Kraftwerks Olkiluoto in Finnland wurde etwa 2021 mit 13-jähriger Verspätung fertig. Das AKW Rostov-4 in Russland ging 35 Jahre nach dem Baustart ans Netz, heißt es im World Nuclear Report. Bei Windrädern dauert es – abhängig vom Standort und von den Rahmenbedingungen – bis zu fünf Jahre. Um die europäische Energieversorgung auf emissionsarmen Strom umzustellen, ist der Bau neuer Atomkraftwerke deshalb zu träge und zu teuer, so die Kritik. (Julia Beirer, Florian Koch, 7.3.23)