Die Grundidee von Wladimir Putins Propaganda sei, Menschen mit anderer Meinung zu suggerieren, dass sie allein seien, sagt Kirill Artemenko von der Onlineplattform "Bumaga".

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Für unabhängige Journalistinnen und Journalisten wird es in Russland immer schwieriger zu arbeiten. Bei einer Veranstaltung im Presseclub Concordia erzählten Medienarbeiter und -vertreterinnen von ihrem journalistischen Alltag entweder im Land oder im Exil.

Rund 1.000 Journalisten verließen Russland seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine. "Unser Hauptproblem ist die Sicherung des legalen Status unserer Journalisten", sagte Galina Timtschenko, die Chefin des im Exil tätigen Onlinemediums "Meduza", das in Russland für "unerwünscht" erklärt worden war, am Montag in Wien. Die humanitären Visa ihrer Mitarbeiter in Lettland, Deutschland und den Niederlanden laufen aus.

Strafen bis zu sechs Jahren Haft

Unabhängigen Journalisten drohten Strafen von 500 Euro bis zu sechs Jahren Haft, berichtete Timtschenko bei der Veranstaltung von Fjum und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dass "Meduza" noch existiert, bezeichnete Timtschenko als "Wunder".

Das aus Riga arbeitende Medium habe 90 Prozent seiner Einnahmen verloren. Sie starteten Crowdfunding, und mithilfe neuer technischer Kanäle hätten sie weiterhin ein "Millionenpublikum". Rund 15 Millionen der insgesamt etwa 145 Millionen Russen "brauchen dringend die Wahrheit", bezifferte Timtschenko den Kreml-kritischen Anteil der Bevölkerung. Dieser Zielgruppe fühle sie sich verpflichtet. Die Quellenlage und Verifikation von Informationen sei allerdings sehr schwierig. An die Artikel müsse der Zusatz "Diese Information konnte nicht unabhängig geprüft werden" angefügt werden.

Finanzielle Herausforderung

Auch der Chefredakteur des unabhängigen russischen TV-Senders Doschd, Tichon Dsjadko, sieht sich mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert. Weil Journalisten die russischen Soldaten in der Ukraine als "unsere Soldaten" bezeichnet hatten, verlor das Medium seine Lizenz in Lettland, von wo aus es seit März des Vorjahres gesendet hatte. Die niederländische Medienaufsicht erteilte dem Exilfernsehen nun die Sendeerlaubnis. Die Redaktion beziehungsweise Teile davon nach Amsterdam zu übersiedeln sei auch eine finanzielle Herausforderung. Einen Großteil seines Publikums hat Doschd weiterhin in Russland. Die Berichterstattung aus dem Heimatland sei nun "ein großes Problem". Man sei auf "mutige" Journalisten, die meist anonym bleiben, auf das Internet und soziale Medien angewiesen, erklärte Dsjadko.

"Unsere Leser sind am Krieg interessiert", sagte die Journalistin Irina Tumakowa, die aus Sankt Petersburg für "Nowaja Gaseta" beziehungsweise "Nowaja Gaseta Europe" berichtet. "Ich gehe zu den Menschen und stelle ihnen Fragen, die mich selbst interessieren, zum Beispiel: 'Was denkst du wirklich über die Situation, wie stehst du zu dem Krieg?' Und ich beobachte, wie lange die Menschen überlegen, bevor sie antworten. Es ist wichtig für mich, zu verstehen, was sie denken."

Russische Propaganda

Was hält kritische Journalistinnen und Journalisten wie Tumakowa im Land? "Ich habe drei Hunde, deshalb kann ich Russland nicht verlassen", sagt Irina Tumakowa mit Augenzwinkern. Aber in der Hauptsache muss die Journalistin in Russland arbeiten, um "all diese schrecklichen Dinge zu sehen und darüber zu berichten."

Tumakowa ist es wichtig, aus Russland zu berichten, wiewohl ihr bewusst ist, dass die alleinige Sicht von innen die Gefahr in sich birgt, gewisse Dinge zu übersehen. Russische Propaganda könne sie zum Beispiel nicht lesen, sagt Tumakowa. "Das ist zu viel für mich, ich kann das nicht." Gleichzeitig wisse sie, dass ihr dadurch ein wichtiger Teil an Information verloren gehe. "Der Blick von außen ist wichtig", sagt Tumakowa.

Angst vor Information

Über die Stimmung im Land sagt Tumakowa: "Ich verstehe, dass viele Menschen Angst davor haben, mehr über die schockierenden Entwicklungen in ihrem Land zu erfahren. Die Leute haben Angst vor den Informationen, sie wollen nichts davon hören. Erst wenn man beginnt, Fragen zu stellen, fangen sie ihrerseits an, Fragen zu stellen."

Über die ihr drohende Gefahr an Leib und Leben denkt Tumakowa nicht nach: "Diese Frage stelle ich mir nicht. Unsere Leser sind interessiert am Krieg."

Onlineplattform "Bumaga"

Kirill Artemenko von der Onlineplattform "Bumaga" berichtet aus dem Exil. "Bumaga" ist eines von mehreren russischen Medien, Nichtregierungsorganisationen und Aktivistengruppen, die wegen des Ukrainekriegs ins Exil gezwungen wurden und innovative Wege gefunden haben, um die Verbindungen zu den in Russland zurückgebliebenen Zuschauern aufrechtzuerhalten – und neue Zielgruppen im Ausland zu erschließen.

"Wirklich kritischer Journalismus ist nur von außen möglich", sagt Artemenko. "Bumaga" hat dazu ein – meist anonymes – Netzwerk von Freelancern aufgebaut. "80 Prozent unseres Publikums sind innerhalb des Landes. Es ist wichtig für sie, zu wissen, dass sie nicht allein sind", sagt Artemenko. Die Grundidee von Propaganda sei, Menschen mit anderer Meinung zu suggerieren, dass sie allein seien. "Dann sind sie traurig und still. Viele sind verstummt, weil sie nicht ins Gefängnis wollen, aber sie fühlen die Schande und den Horror, weil sie gegen den verrückten Move unserer Regierung sind", sagt Artemenko. "Wir erhalten hunderte Briefe, die uns unterstützen."

Dennoch beobachtet der Journalist eine gewisse Newsmüdigkeit hinsichtlich der Kriegsberichterstattung: "Es wird immer komplizierter, Menschen zu finden, die offen sprechen."

Feministischer Widerstand

Einen anderen Weg, die Menschen im Land zu erreichen, hat die Feministin und Aktivistin Lolja Nordic gefunden. Mit ihrer Widerstandsbewegung Feminist Anti-War Resistance ist sie unter anderem in sozialen Medien unterwegs und verbreitet brisante Informationen zum Krieg auf scheinbar harmlosen Grußkarten.

Auf diesem Weg wollen die Mitglieder der Organisation Kontakt zu lokalen Medien in Russland halten und breite Zielgruppen erreichen.

EU-Kommission versichert Unterstützung

"Sie brauchen unsere Unterstützung", unterstrich Marie Frenay, Mitglied im Kabinett von EU-Kommissionsvizepräsidentin Věra Jourová, die zugeschaltet wurde. "Es gibt in der EU ein steigendes Verständnis, dass wir mehr tun müssen", sagte Frenay. "Es ist im Interesse der EU, dass Menschen in Russland Zugang zu unabhängigen Medien haben sollen. Wir müssen mehr tun, um unabhängigen Medien zu helfen, sodass diese ihre wichtige Arbeit weiterführen können."

Aus dem Grund fänden vermehrt Gespräche statt mit unabhängigen Journalistinnen und Journalisten. "Wir wollen ihre Bedürfnisse verstehen, und wir wollen wissen, was wir im besten Fall tun können." Der Charakter der Unterstützung habe sich zudem geändert: "Wir müssen weg von Notfallunterstützung zu einer nachhaltigeren Hilfe." (prie, APA, 6.3.2023)